Gewohnheiten helfen uns, den Alltag gut zu bewältigen. Doch so manche ist schädlich. Gerade diese Gewohnheiten sind nicht leicht zu überwinden. Welche Methoden gibt es zur Verhaltensänderung und um neue Verhaltensmuster aufzubauen?
Die Macht der Gewohnheit ist groß“, bemerkte schon Cicero. Jedes Jahr aufs Neue nehmen Menschen sich vor, Verhaltensweisen zu ändern: mehr Sport treiben, gesünder essen, regelmäßig meditieren, mehr in der Natur sein, weniger Serien schauen oder sich friedlicher im Straßenverkehr verhalten. Das sind alles tolle Vorsätze, aber die Entscheidung für einen neuen Weg reicht nicht, um ihn langfristig auch zu beschreiten. Der Mensch scheint ein „Gewohnheitstier“ zu sein. Woran liegt das?
Unser Gehirn mag Gewohnheiten, denn sie erleichtern das Leben ungemein. Wir müssen nicht erst jeden Morgen lange überlegen, wie Autofahren geht, sondern steigen einfach ein und fahren los. Menschen können mithilfe von Gewohnheiten mehrere Dinge scheinbar gleichzeitig tun, zum Beispiel Wäsche aufhängen und einen Podcast hören, essen und ein Gespräch führen, duschen und dabei nachdenken. Mit dieser Fähigkeit kann das Gehirn sein ganzes Potenzial ausschöpfen.
Jon Kabat-Zinn, Begründer des weitverbreiteten Achtsamkeitsprogramms MBSR, nennt diesen automatisierten Anteil in uns den „Autopilot“. Jeder, der tanzen gelernt hat, erinnert sich an die Anfänge, als er einzelne Tanzschritte zu einer kleinen Choreografie zusammengefügt hat. Vielleicht gab es noch Anweisungen der Tanzlehrerin: „Schritt nach links, rechts ran, dann nach hinten, Wiegeschritt nach links vorne, cha, cha, cha.“ Für solche Aktivitäten, wie das Tanzen lernen, braucht das Gehirn viel Energie. Die enorme kognitive Leistung wird vor allem von der Großhirnrinde übernommen. Nach vielen Wiederholungen ist es möglich, wie im Schlaf Cha-Cha-Cha zu tanzen, ohne über die Schritte nachzudenken. Wer so weit ist, kann beim Tanzen dann zum Beispiel mit der Tanzpartnerin plaudern. Die Großhirnrinde, die für bewusstes Handeln zuständig ist, wird entlastet. So ist es dann möglich, sich weitere, kompliziertere Schrittfolgen beizubringen oder parallel zum Tanzen eine Beziehung zur Tanzpartnerin aufzubauen.
Abgespeichert werden diese Gewohnheitsabläufe in den sogenannten Basalganglien, die für alltägliche und unbewusst ablaufende Handlungen zuständig sind. Gewohnheiten beziehen sich nicht nur auf motorische Handlungsabläufe, sondern auch auf emotionale und gedankliche Reaktionsmuster. Es bilden sich Netzwerke, die in auslösenden Situationen aktiviert werden können und dann automatisiert ablaufen, sodass wir auch nach Jahren Cha-Cha-Cha tanzen können, selbst wenn wir diesen Tanz ewig nicht getanzt haben.
Vor allem Kindern fällt es leicht, Neues zu lernen und Gewohnheiten aufzubauen. Das Gehirn besitzt die Fähigkeit, sich an neue Situationen anzupassen, zu lernen und sich zu regenerieren. Dies nennt man Neuroplastizität. Diese Fähigkeit bleibt dem Menschen ein Leben lang erhalten. Allerdings wird es im Laufe des Lebens immer schwerer, Neues zu lernen und als Gewohnheit zu etablieren. Leider eignen wir uns nicht nur hilfreiche Fähigkeiten an. Besonders gerne lernen wir Verhaltensweisen, die mit einer Belohnung im Gehirn und der Ausschüttung von Dopamin einhergehen, wie das abendliche Naschen vor dem Fernseher oder das minütliche Checken des Handys. Dies kann zu süchtigem Verhalten werden und sehr quälend sein. Dann glauben wir, machtlos gegen den Gewohnheitsdruck zu sein.
Eine bestehende Gewohnheit abzubauen, um eine neue aufzubauen, erscheint schwierig. Das Gehirn hält gerne an bewährten Strategien fest, denn es arbeitet energiesparend. Vorhandene Gewohnheiten zu verändern, während man gleichzeitig alternative Verhaltensmuster aufbaut, verbraucht sehr viel Energie, sprich Aufmerksamkeit. Das sollte man wissen, um nicht frustriert zu sein, wenn das angestrebte Ergebnis zunächst auf sich warten lässt.
Widerstand gegen Verhaltensänderung
Hinzu kommt, dass wir in Stresssituationen gerne auf alte, bewährte Strategien zurückgreifen. Das vermittelt ein Gefühl von Sicherheit. Eine alte Gewohnheit zu verlernen, um Neues zu entwickeln,erfordert also viel Aktivität der Großhirnrinde. Obwohl Veränderung für uns langfristig gesund und gut sein kann, bleiben wir häufig in eingetretenen Pfaden, sogar wenn uns das schadet. Besonders eindrücklich kann ich diesen Widerstand gegen Veränderungen jeden Tag in meiner Arbeit als Psychotherapeutin beobachten. Manche Menschen brauchen lange psychotherapeutische Begleitung, um sich von quälenden, schädlichen Gewohnheitsmustern zu befreien. Den gewohnten Weg zu verlassen und einen neuen, unbekannten Weg zu gehen, bedeutet, seine Komfortzone zu verlassen, und das kann als unangenehm oder sogar bedrohlich empfunden werden. Um nicht aus der Komfortzone direkt in die Panikzone katapultiert zu werden, ist es sinnvoll, die angestrebte Änderung des Verhaltens schrittweise anzugehen.
Was können wir tun, um nicht in guten Vorsätzen stecken zu bleiben? Was kann uns helfen? Die tief befreiende Achtsamkeits- und Mitgefühlpraxis bietet uns eine wunderbare Möglichkeit, diese Veränderungsprozesse zu aktivieren und zu begleiten. Für eine tiefgreifende Veränderung braucht es mehrere Schritte:
Erkennen des Autopiloten: Erst wenn ich meine Angewohnheit bemerke, kann ich sie ändern. Das ist manchmal gar nicht so einfach, denn die Vorteile des Autopilotmodus bestehen ja genau darin, dass Vorgänge unbewusst ablaufen. Wir reagieren in einer bestimmten Situation auf die immer gleiche, automatisierte Weise. Als ich einmal ein Intensivseminar in achtsamem Selbstmitgefühl gab, schwiegen wir beim Frühstück. Eine Teilnehmerin kam später auf mich zu und sagte, sie habe durch die Stille und das Innehalten erst bemerkt, dass ihr Kaffee gar nicht schmecke und ihr nicht guttue. Sie wolle nun keinen Kaffee mehr trinken. Dafür brauchen wir die Praxis der Achtsamkeit.
Einsicht wirkt nachhaltig
Selbsterkenntnis: Ein gewisser Leidensdruck in uns kann ein Motivationsschub sein. Das funktioniert nachhaltiger, wenn die Einsicht aus uns selbst kommt und nicht von außen an uns herangetragen wird, wir also eine tatsächliche Einsicht in unser möglicherweise schädliches Verhalten gewonnen haben.
Kreativität: Haben wir durch Achtsamkeit mehr Bewusstheit erlangt, geben wir uns mehr Entscheidungsspielraum und mehr Freiheit für neue Sichtweisen. Was könnte eine heilsamere Alternative sein? In dem Fall der Teilnehmerin: Ich möchte einen Tee finden, der mir schmeckt. Es kann sogar Spaß machen, etwas Neues auszuprobieren.
Innere Bereitschaft und Disziplin: Es ist wichtig, sich kleine, machbare Ziele zu setzen und diese Verhaltensänderung konsequent über einen Zeitraum von 70 bis 100 Tagen einzuhalten. So lange dauert es im Durchschnitt, bis sich neue neuronale Muster gebildet haben und auf diese Weise neue Verhaltensweisen etabliert sind. So hat das Neue die Chance, zur Gewohnheit zu werden, während das alte Netzwerk weniger aktiviert ist. Güte, Weisheit und Mitgefühl motivieren uns liebevoll, auf dem neuen Weg zu bleiben.
Buddhistische oder säkulare Meditationsangebote wie MBSR- oder MSC-Kurse können einen Beitrag dazu leisten, Menschen in ihren Veränderungsschritten zu begleiten. Die Achtsamkeitspraxis bringt Menschen unter anderem mit ihren Gewohnheitsenergien in Kontakt und zeigt ihnen, wie Veränderung paradoxerweise gerade dann entsteht, wenn wir Akzeptanz üben und den Wunsch nach Veränderung loslassen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 125: „Geist & Gehirn"
Im Rahmen eines solchen Kurses können die Teilnehmenden auch sehen, dass es nicht nur ihnen selbst, sondern auch allen anderen nicht ganz leichtfällt, eingefahrene Verhaltensmuster zu verändern. Die gegenseitige Unterstützung in der Gruppe wird häufig als sehr hilfreich empfunden. Auch können wir uns mit einer tieferen Einsicht in uns verbinden, um unsere Absichten zu erforschen. Das kann uns helfen, nicht in die Selbstoptimierungsfalle zu tappen. Auch die Praxis des Selbstmitgefühls ist auf dem Weg der Veränderung hilfreich. Wer sich selbst Wohlwollen entgegenbringt, sieht, dass es normal ist, auf dem neuen Weg zu straucheln und auch mal rückfällig zu werden.
Die Disziplin ist ebenfalls wichtig. Bei manchen mag das Wort Disziplin unangenehme Erinnerungen wachrufen. Es ist wichtig zu verstehen, dass Disziplin nicht Drill bedeutet, sondern eher stetes Bemühen. Sie sollte nicht über Strafe aufrechterhalten werden, sondern durch Güte und Verständnis für die Bemühungen.
Diese liebevolle Art und Weise, mit sich selbst im Kontakt zu sein, kann uns auf eine neue Weise motivieren und ermutigen, weiter am Ball zu bleiben. So kann aus dem Gewohnheitstier ein neugieriger, wacher Mensch werden, der zum langfristigen Wohlergehen seiner selbst und seines Umfelds beitragen möchte.
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