Erinnerungen sind ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Sie geben uns Identität und Stabilität. Manchmal sind sie belastend. Doch Erinnerungen sind nicht statisch, sie verändern sich im Laufe der Zeit. Das ist Chance und Gefahr zugleich.
Die Erinnerung an besonders emotionale Erlebnisse, etwa die eigene Hochzeit, die Geburt eines Kindes oder das Mobbing in der Schule, bleiben besonders lange im Gedächtnis. Allerdings liegen Erinnerungen nicht wie ein Foto oder ein Film vor. Erinnerungen sind konstruiert. Sie sind gedankliche Abstraktionen, die Erlebtes und die Interpretation des Erlebten zu einer Einheit zusammenfassen.
Zu diesem Ergebnis kommen Dr. Roy Dings und Prof. Dr. Albert Newen vom Institut für Philosophie II an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsergebnisse haben sie in der Fachzeitschrift „Review of Philosophy and Psychology“ veröffentlicht. Starke Emotionen können zu Erinnerungswandel führen Erinnerungen bestehen in der Regel aus den Wahrnehmungen eines zurückliegenden Ereignisses und Interpretationen, die hinzugefügt werden, wenn die Erinnerung später abgerufen wird. „Die Erinnerung an wichtige Ereignisse konstruieren wir oft so, wie sie uns in den Kram passen“, folgert Albert Newen.
Es gibt verschiedene Auslöser, die für eine Interpretation der Erinnerungen verantwortlich sind. „Wenn wir uns mit Freunden unterhalten, erzählen wir über uns selbst genau das, was uns wichtig ist“, erläutert Roy Dings. „Diese Aspekte bezeichnen wir als das narrative Selbstbild.“ Da wird dann schon mal aus einer etwas heiklen Abfahrt im Skiurlaub eine besonders dramatische Situation, die wir heldenhaft gemeistert haben. Gerade unsere biografische Erzählung ist davon betroffen. Wir berichten über unseren Lebensweg immer interpretierend und einordnend. Haben wir das Selbstbild eines strebsamen, erfolgreichen Entrepreneurs, eines Machers, passen wir rückblickend die Geschichte unseres Lebens entsprechend an. Pflegen wir ein eher negatives Selbstbild, wird unsere biografische Erzählung zu einer Aneinanderreihung von Situationen, in denen wir allesamt gescheitert sind. Diese Erzählweise kann dazu führen, dass wir Details einfügen, die gar nicht stattgefunden haben. Doch tun wir dies meist, ohne es selbst zu merken. Diese falschen Informationen werden Teil unserer Erinnerung und verändern sie.
Auch starke Emotionen können dazu führen, dass sich Erinnerungen wandeln. Wer eine negative Erfahrung gemacht hat, neigt manchmal dazu, sie in seinem Gedächtnis zu verstärken. Oder, und das geschieht noch häufiger, wir mildern diese als Teil einer Bewältigungsstrategie ab. Dadurch wird die ursprüngliche Erinnerung verzerrt und verändert.
Ein weiterer Grund für die Umgestaltung von Erinnerungen ist der zeitliche Abstand zur ursprünglichen Erfahrung. Je länger eine Situation zurückliegt, desto mehr können Details verschwimmen oder sogar vergessen werden. Das Gehirn füllt dann Lücken auf. Dabei kommt es nicht auf den Wahrheitsgehalt der hinzugefügten Informationen an, sondern nur, ob die Gesamterzählung für uns weiterhin stimmig erscheint. „Wir formen unsere Erinnerungen also im Prinzip so, dass wir unser positives Selbst schützen und die Herausforderungen durch negative Erinnerungen gern abmildern, die nicht zu unserem Selbstbild passen“, resümiert Albert Newen. Doch warum hat die Evolution den Menschen mit flexiblen Erinnerungen ausgestattet? Eine mögliche Antwort darauf ist, dass eine flexible Erinnerung dabei helfen, besser auf zukünftige Ereignisse vorbereitet zu sein. Indem wir eine Erfahrung aus der Vergangenheit anpassen und mit neueren Erfahrungen aktualisieren, können wir schneller auf aktuelle Situationen reagieren.
Erinnerung wird den Erwartungen angepasst
Auch schützen wir uns mit einer positiven Selbsterzählung vor zukünftigem Scheitern. Wir betreiben im Grunde unabsichtlich eine Art der selbsterfüllenden Prophezeiung. Ein positives Selbstbild hilft, mit schwierigen zukünftigen Ereignissen umzugehen. Wer überzeugt ist, in der Vergangenheit viele heikle Situationen gemeistert zu haben, weil er einfach ein starker Charakter ist oder auf eine andere Art besonders, der sieht positiver, mit weniger Ängsten in die Zukunft. Das hat konkrete Auswirkungen auf unsere Resilienz und die Fähigkeit, mit Schwierigkeiten umzugehen. Man scheitert dann tatsächlich weniger oft. Und wenn doch, wird das Scheitern umgedeutet, und man fühlt sich gleich besser. Falsche Erinnerungen treten aber nicht nur bei länger zurückliegenden Ereignissen auf. Unser Gedächtnis kann schon Sekunden, nachdem wir etwas erlebt haben, verfälscht sein. Widersprechen die Ereignisse unseren Erwartungen, korrigiert das Gehirn diese Abweichung fast augenblicklich. Wir sind dann überzeugt, das Erwartete genau so erlebt zu haben. Eine Erinnerung lässt sich auch gezielt beeinflussen. Forscher konnten zeigen, dass das Anlegen von schwachen elektrischen Reizen an bestimmten Hirnregionen während des Abrufs von Erinnerungen dazu führen kann, dass die ursprüngliche Erinnerung verändert oder verzerrt werden. Dies kann dazu führen, dass Personen sich an Ereignisse anders erinnern, als sie tatsächlich stattgefunden haben.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 125: „Geist & Gehirn"
Erinnerungen bilden die Wirklichkeit nicht ab
Ebenso beeinflusst Schlafmangel die Erinnerung. Wenn Menschen über längere Zeit hinweg nicht genügend Schlaf bekommen, führt dies dazu, dass ihr Gedächtnis schlechter funktioniert. Schlafmangel beeinträchtigt die Konsolidierung von Erinnerungen, was zu Fehlern bei der Speicherung und dem Abruf von Informationen führt. Eine plötzliche Ablenkung während des Erinnerungsabrufs kann ebenfalls dazu führen, dass Erinnerungen verfälscht werden. Auch psychologische Manipulation pflanzt falsche Erinnerungen ins Langzeitgedächtnis ein: Nach einigen manipulativen Gesprächen innerhalb einer Forschungsreihe waren Testpersonen beispielsweise davon überzeugt, sich an eine Ballonfahrt in ihrer Kindheit zu erinnern, die niemals stattgefunden hat. Jugendliche glaubten, eine Straftat begangen zu haben. Erinnerungen sind also zu einem beträchtlichen Teil konstruiert. Sie bilden die Wirklichkeit nicht ab. Das wirft auch einige ethische Fragen auf. Da Erinnerungen fehleranfällig sind und durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden können, stellt sich die Frage nach der Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen. Im juristischen Kontext kann dies zu falschen Verdächtigungen oder ungerechten Urteilen führen. Es ist wichtig, dass Gerichte und Ermittlungsbehörden die Einschränkungen des menschlichen Gedächtnisses verstehen und bei der Bewertung von Zeugenaussagen entsprechende Vorsicht walten lassen. Bei der Behandlung von traumatischen Ereignissen oder psychischen Störungen kann es ebenso vorkommen, dass Erinnerungen entstehen oder rekonstruiert werden, die nicht der tatsächlichen Vergangenheit entsprechen. Therapeuten sollten sich bewusst sein, wie ihre Fragen oder Interventionen das Gedächtnis beeinflussen, und darauf achten, keine falschen Erinnerungen zu induzieren. Die Manipulation von Erinnerungen dient auch als Werkzeug für Missbrauch. Durch Änderungen von Erinnerungen werden Handlungen oder Ereignisse verschleiert. Oder es werden Menschen dazu gebracht, Handlungen auszuführen oder zu erdulden, die ihnen oder anderen Schaden zufügen.
Identitätsbildung durch Erinnerungen
Das menschliche Gehirn ist nicht dazu konstruiert, gesichertes Wissen über die Vergangenheit zu bewahren. Da Erinnerungen aber eine bedeutende Rolle bei der Bildung unserer Identität und unserer Selbstwahrnehmung spielen, stellt sich die Frage, wie wir unsere Identität definieren, wenn eine der Grundlagen dieser Identität, unserer Erinnerungen, weitgehend unzuverlässig ist. Eines wird klar: Der Vergangenheit nachzuhängen, hat wenig Sinn. Wir kennen sie gar nicht. Dies wirft
uns radikal auf das Hier und Jetzt zurück. Wir können lediglich versuchen, im Augenblick die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind.
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