Wut ist eine starke Emotion. Sich ihr bewusst und achtsam zuzuwenden kann befreiend wirken und zu einer tiefgreifenden Transformation führen. Sie ist auch ein Antrieb für soziales Engagement. Wie passt Wut zu meiner Meditationspraxis?
Wenn ich an die von Menschen gemachte Klimaerhitzung denke, werde ich manchmal wütend. Oder ich werde zornig, wenn ich sehe, wie Menschen und Tiere wegen des kurzfristigen Profits ausgebeutet werden. Es macht mich manchmal stinksauer, wenn ich Alltagsrassismus oder andere diskriminierende Mikroaggressionen erlebe. Wut ist durchaus berechtigt und manchmal auch angebracht. Eine so starke Kraft wie Wut kann zwar verdrängt werden, damit sie nicht mehr spürbar ist, sie wütet dann aber unterschwellig weiter. Sie verkörpert sich bloß anders.
Spannungsfeld zwischen Destruktion und konstruktiver Aktivität
Mit der Zeit habe ich gelernt, dass Emotionen wie Wut, Zorn und Verzweiflung wichtig und zentral für meine Praxis und mein soziales Engagement sind. Denn Wut weist auf etwas hin: Sie zeigt innere oder äußere Missstände auf. Aber wie kann ich mit starken Gefühlen umgehen? Wie bewege ich mich im Spannungsfeld zwischen der destruktiven Natur eines wutentbrannten Zustands und den heilsamen Aspekten der Meditationspraxis? Kann Wut überhaupt in eine heilsame, konstruktive Aktivität umgewandelt werden?
Zunächst klingt es vielleicht so, als ob diese Praxis unvereinbar mit Achtsamkeit oder der buddhistischen Lehre wäre. Heißt es nicht, wir sollten uns von starken Gefühlen nicht wegschwemmen lassen und stattdessen Gleichmut, Weisheit, Mitgefühl und Geduld üben? Das buddhistische Versprechen ist es, sich von einem engen, angstvollen Zustand wegzubewegen hin zu mehr Freiheit, einem warmen Raum der Zugehörigkeit und des Glücks. Der Autor und buddhistische Lehrer Lama Rod Owens hat in seinem Buch „Lieben und Wut“ detailliert beschrieben, wie Praktizierende mitten durch die Wut hindurch tiefer in darunterliegende Gefühle und Zustände eintauchen können.
Auch Rev. angel Kyodo williams betont: Wut soll gese- hen und gewürdigt werden, denn sie kann helfen, Ungerechtigkeiten aufzudecken und dabei unterstützen, positiven Wandel herbeizuführen.
Im Buch "Radikal lieben – Buddhismus, Antirassis- mus und Befreiung" sagt Kyodo williams im Gespräch mit Rod Owens: „Der Umgang mit Gefühlen wird in Dharma-Gemeinschaften oft manipuliert, indem insbesondere Wut vermieden oder sogar unterdrückt wird.“ Und weiter: „Wir müssen uns für unsere eigene Befreiung einsetzen, unabhängig davon, was draußen passiert. Und paradoxerweise macht das den Weg frei für Veränderungen, die im Außen stattfinden.“ Um so einen Zustand innerer Weite und Freiheit zu erreichen, braucht es Übung in Form von Meditation, Selbstfürsorge und auch der zwischenmenschlichen ethischen Alltagspraxis. Nur, wie genau übe ich, damit sich etwas in mir verändert? Wie gehe ich mit heraus- fordernden Situationen, überwältigenden Gefühlen und großer Wut um? Was geschieht, wenn ich mich zu sehr nur auf mich selbst konzentriere oder mich für eine Sache oder andere Menschen so verausgabe, dass ich Gefahr laufe, auszubrennen? Wie finde ich diese Balance zwischen sozialer Verantwortung, Aktivität und einer nährenden, mich erfüllenden Praxis?
Zunächst geht es darum, die Wut überhaupt zu bemerken, sie im Körper zu spüren und sie dadurch auch wirklich anzuerkennen. Erst in einem weiteren Schritt kann es sinnvoll sein, sie auszudrücken. Lama Rod legt uns nahe, uns zuallererst einfach ganz wohlwollend mit unserer gefühlten Körperlichkeit, dem Embodiment, zu befassen und so Heilung zu erleben. Es geht darum, wegzukommen von einer Idee, wie wir zu sein hätten als Buddhist*innen, als Meditierende oder einfach als Menschen. Und stattdessen in einen Modus von echter Selbstliebe und Akzeptanz zu wechseln.
Spüren, was gerade ist
Im spirituellen Umfeld begegne ich nicht selten dem Begriff der Transformation. Transformation beschreibt einen Prozess der Wandlung von einem Zustand in einen anderen. Lama Rod Owens betont, dass es ihm nicht um Transformation gehe. Vielmehr sei es entscheidend, die Dinge, wie sie jetzt gerade sind, wirklich zu spüren. Sie nicht zu verdrängen oder gar als unwichtig abzutun.
Lama Rod, Lehrer in der tibetisch-buddhistischen Kagyü-Schule, der eine aktivistische Vergangenheit hat, hat mit dem Buddhismus und der Meditation einen Weg gefunden, sich mitten im Zorn zu akzeptieren und darin Befreiung zu finden. Wut, so Rod Owens, ist eine Sekundäremotion und kann auch eine wichtige Triebfeder sein. Darunter aber liegen vielleicht noch viel größere Emotionen wie beispielsweise Trauer, Verzweiflung und Angst. Durch die Wut werden wir auf diese Gefühle hingewiesen: Hör zu, schau hin, spür hinein, da ist etwas. Wir sollten daher den Wunsch, uns zu transformieren und den ichbezogenen Zustand zu verbessern, nicht mit einer Flucht vor herausfordernden Gefühlen beantworten. Darum sagt Lama Rod, es gehe ihm nicht um die Transformation, also nicht darum, möglichst schnell von einem Zustand in einen anderen zu wechseln. Denn dann schieben wir wichtige Hinweise für unsere Praxis einfach weg. Das ist eine Form des „Spiritual Bypassing“. Dieser Begriff kann auch übersetzt werden als spirituelle Verdrängung oder Abkürzung. Bedeutet also, wenn Spiritualität genutzt wird, um etwas zu vermeiden.
Verdrängen kann natürlich auch eine temporäre, not- wendige Überlebensstrategie sein. Grundsätzlich aber nehme ich in so einem Zustand meinen Atem, meine Körperhaltung, meine Befindlichkeiten nicht vollständig wahr. Und auch die Zustände anderer Lebewesen bemerke ich nicht. Brenne ich für eine Sache und möchte Wandel möglichst schnell bewirken, wird anderes auf der Strecke bleiben. Es scheint hier zwei spirituelle Herangehensweisen zu geben: einmal die Idee, zu üben, um Transformation wahrscheinlicher zu machen. Wenn ich so vorgehe, arbeite ich auf ein Ziel hin und will dort ankommen. Und ich glaube, ich müsste ein bestimmtes Ziel erreichen. Möchte ich beispielsweise frei von Gier, Hass und Unwissenheit sein – im Buddhismus sind das die drei Wurzeln unheilsamer Handlungen –, könnte ich annehmen, dass es völlig ausreichen würde, einfach diese Absicht zu haben. Doch es reicht natürlich nicht aus, nur die Absicht zu haben. So eine spirituelle Abkürzung löst erfahrungsgemäß viel Leid aus, bei einem selbst und allen Menschen im Umfeld. Denn wir lassen Interaktionen nie ganz an uns heran und sind wenig kritikfähig – denn das würde ja unser idealisiertes Selbstbild ankratzen.
Akzeptanz führt zu Wandlung
Andererseits gibt es aber auch die Idee, dass es in der spirituellen Praxis einfach nur darum geht, sich voll und ganz für das Hier und Jetzt zu öffnen. Eine solche Haltung legt keinen besonderen Wert auf die Wand- lung an sich, sondern vielmehr auf eine allumfassende, liebevolle Akzeptanz meines jetzigen Selbst und meiner Mitlebewesen. Wandel geschieht sowieso kontinuierlich. Er kann hier höchstens als eine Begleiterscheinung verstanden werden. Im Zen-Buddhismus wird viel Wert darauf gelegt, dass wir um der Übung und nicht der Transformation willen praktizieren. Einfach nur hier zu sein und die Dinge so, wie sie sind, ohne Urteil zu spüren und an- zunehmen, bedeutet auch, keine Transformation anzustreben – sie von allein geschehen zu lassen. Ein wichtiger Begriff in meiner Linie des Zen ist Shikantaza. Das bedeutet, einfach nur sitzen, tief in die Praxis der Meditation, des inneren und äußeren Wahrnehmens eintauchen und keinen Nutzen daraus ziehen wollen. Im Sitzen auf dem Meditationskissen meinen Körper ganz ausfüllen und mich vollständig als Körper-Herz-Geist wahrnehmen. Meinen Atem beim Gehen vollständig spüren. Und in der täglichen Interaktion mein Gegenüber in ihrer*seiner Ganzheit wahrnehmen.
Den Gewaltzyklus durchbrechen
Auch in dieser Übung lauert die Gefahr einer spirituellen Verdrängung. Wer die Praxis so versteht, dass sie*er sich nur um sich selbst oder das Wohl ihrer*seiner Liebsten kümmert, wendet sich auch ein wenig von allem Lebendigen und der sozialen Mitverantwortung, von der Mitverantwortung für die Klimakrise, Rassismus, Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ab. Die Qualität der Gewaltlosigkeit kommt hier ins Spiel. Sie zeigt, warum die Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben von so großer Bedeutung ist. Was heißt es genau, frei von Gewalt zu sein? Auch hier: Ist eine gute Absicht allein ausreichend?
Damit Wut nicht in Ausübung von Gewalt mündet, müssen wir den Gewaltzyklus durchbrechen. Gewalt nicht zu wiederholen oder weiterzugeben, sei laut Lama Rod Owens erst dann möglich, wenn wir uns gut um uns selbst kümmern. Wo befinden sich die Emotionen, wie fühlen sie sich an? Lassen wir es zu, in Wut und Trauer hineinzuspüren? Zu spüren, hier in meinem Kiefer spannt es jetzt gerade. Oder, da ist ein Gefühl der Enge in meinem unteren Rücken, mein Puls beschleunigt sich, während oder nachdem ich bestimmte Dinge erlebe? Wir können, so Owens, erst Heilung erfahren, wenn wir den Gefühlen in uns selbst Raum geben. Lama Rod schlägt vor, dass wir starke Emotionen erst sehen, benennen, dann ganz annehmen, bevor wir sie loslassen versuchen. Es sei wichtig, der Wut die Erlaubnis zu geben, zu existieren. Wird Wut nicht vollständig gefühlt, wütet sie im Körper unsichtbar weiter. Können wir sie sehen, kommen wir vielleicht sogar in Kontakt mit darunterliegenden Gefühlen wie beispielsweise tiefe Trauer. Nehmen wir die verkörperten Gefühle wahr und akzeptieren wir sie aus einer liebevollen Haltung der inneren Weite, kann es geschehen, dass diese so- matischen Erlebnisse mit der Zeit diffuser werden. So können sie sogar losgelassen werden.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 126: „So gelingt Dein Leben"
Lama Rod animiert uns dazu, die Gefühle dann eine Weile lang schweben zu lassen. Die Informationen in dieser Wolke werden uns noch ein wenig begleiten. Es kommt in dieser Art der Praxis fast nebenbei zu einer Wandlung. Wir geben den Gefühlen Raum und uns wird Raum geschenkt. Ich kann entspannter in Austausch mit den Gefühlen treten. Sie informieren mich künftig nach wie vor in Erlebnissen, aber ich spüre vielleicht nicht mehr Enge und hohe Reaktivität. Gebe ich den Gefühlen in mir Raum, kann ich mich gewaltfreier ausdrücken. Spreche ich aus einer Position der Weite und direkten Erfahrung meiner Gefühle und auch erst dann, wenn ich nicht mehr stark verwundet bin, kann ich heilsame Entwicklungen anstossen. So wie Bernd Bender, der spirituelle Leiter von Akazienzendo in Berlin, Lama Rods Ansatz zusammenfasst, kann nicht trotz, sondern nur in der Wut Befreiung gefunden werden.
Hinschauen, wenn Gewalt ausgeübt wird
Gewaltzyklen zu durchbrechen, heißt in erster Linie, in uns selbst Heilung zu finden. Weiter bedeutet es, in Beziehung zu gehen: nach innen zu horchen und zu spüren. Und auch in Beziehung zu anderen Wesen zu treten, hinzuhören und mich klar auszudrücken, wenn Grenzen überschritten werden. Es bedeutet auch, gut hinzuhören, wenn mir mein Gegenüber mitteilt, dass ihr*ihm gerade Gewalt angetan wurde. Es heißt auch, Verantwortung zu übernehmen für unabsichtlich aus- geübte Gewalt. Wenn ich beispielsweise unabsichtlich eine diskriminierende Äußerung über mein Gegenüber mache, darf ich dankbar sein, wenn ich darauf hingewiesen werde. Natürlich ist es nicht leicht, aus eigenen Fehlern zu lernen, aber notwendig, um uns wirklich für Wandel zu öffnen.
Wir können Wut also als Hinweis auf tiefer liegende Annahmen und Gefühle verstehen. Absichtslos zu sein, reicht allein nicht aus. Gerade strukturelle und gesellschaftliche Gewaltzyklen werden durch Passivität, durchs Wegschauen und Weghören am Leben gehalten. Wollen wir wirklich ein Leben ganz erleben, dem Leben und allen Lebewesen vollständig begegnen, heißt das, uns selbst vollständig zu begegnen. Können wir uns selbst immer mehr in einer unmittelbaren, offenen, liebevollen Weite begegnen, können wir auch unserem Umfeld diese Qualitäten anbieten. Und, so geschieht Wandel, indem wir als fühlende, leidende Wesen ganz präsent sind, immer wieder aufs Neue.
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