Für ein gutes Leben müsste man eine Silbe aus seinem Leben streichen, und zwar ‚Vor-‘. Solange man einen Vorteil sucht, kann man nicht glücklich sein.
Wir sind keine abgetrennten Wesen, aber das wissen viele nicht. Wir müssen uns mit dem Größeren identifizieren und unsere Rolle ohne jeden Vorteil innerhalb dieses Größeren zu spielen versuchen. Wir brauchen kein angefülltes Leben mit Vorteilen, Reichtum und Macht, sondern ein Leben, in dem man seinen Teil erfüllt.
Unsere Funktion ist die einer Zelle in einem Organismus. Die Silbe ‚Vor-‘ spielt in meinem Leben keine Rolle, vielmehr versuche ich, nützlich zu sein, und bin es bis heute. Nützlichkeit ist mir sehr wichtig. Ich bin auch überaus dankbar, dass mir meine kindliche Neugier geblieben ist, und bemühe mich, vorurteilsfrei zu sein. Zu einem guten Leben gehört für mich auch ein guter Tod. Ich hätte gerne das Sterberecht, denn keiner will als Pflegefall enden.
Lotte Ingrisch, 85, Schriftstellerin
Foto Lotte Ingrisch © Michael Nagl
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