Immer wieder müssen wir Nachrichten hören, die kaum zu ertragen sind. Sie lösen Entsetzen, Trauer, Ohnmachtsgefühle, Wut und mehr in uns aus... ein neuer herzbewegender Beitrag von Claudia Bülow.
Ein tiefer, schwarzer Abgrund tut sich vor ihr auf. Sie weiß, nach dem Absturz wird sie zerschmettert am Boden liegen. Sie fühlt keine Angst, zu groß ist ihr Leid, ihr Entsetzen. Ihre Gedanken schwirren hilflos umher, suchen einen Anhaltspunkt, suchen nach dem Warum.
Sie sieht ihn vor sich stehen. Mürrisch schaut er sie an, scharrt mit der Fußspitze seines zerrissenen Turnschuhes im Sand. „Lass mich in Ruhe!“ Die Worte kommen gepresst aus seinem Mund. Er wendet sich ab, geht zu den Männern, die vor dem heruntergekommenen Café sitzen. Ihr Herz fühlt sich an wie ein schwerer Stein in der Brust. Ohnmächtig schaut sie seiner hoch aufgeschossenen, mageren Gestalt nach. Was soll nur aus ihm werden?
Ihre Gedanken schweifen ab, bleiben bei seinem ersten Schultag hängen. Er ist blass vor Aufregung, kann nicht stillstehen. Sorgfältig hat sie seine abgetragene Kleidung immer wieder gewaschen, bis sie mit deren Zustand zufrieden gewesen ist. Gut sieht er darin aus. Ein richtiger kleiner Mann! Sie ergreift seine Hand. Er schüttelt sie ab, will alleine gehen. „Mein Sohn“, denkt sie gerührt. Ihr Herz weitet sich vor Stolz und Liebe. Sie streicht seine widerspenstigen dunklen Haare glatt. Röte steigt ihm ins Gesicht und abwehrend dreht er seinen Kopf zur Seite, doch plötzlich löst sich seine Gestalt im Nichts auf.
„Habt ihr meinen Sohn gesehen? Wisst ihr, wo er ist? Ich suche ihn schon so lange“, hört sie sich schrill und verzweifelt rufen. Alle schütteln gleichgültig den Kopf, haben eigene Sorgen. Sie irrt umher, kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Schon lange hat sie nichts mehr gegessen. Ab und an nur einen Schluck abgestandenes Wasser aus einer staubigen Plastikflasche getrunken, die ihr jemand zugesteckt hat. Das Herz hämmert in ihrer Brust. Schluchzend und kraftlos sinkt sie am Wegrand nieder.
Im grellen Licht der Mittagssonne scheint er plötzlich tapsend, auf noch unsicheren Beinen, auf sie zuzulaufen. Lachend will sie ihn auffangen. Er ist noch keine 12 Monate alt und bemüht sich unentwegt, auf seinen kleinen, stämmigen Beinen zu ihr zu kommen. Wenn es ihm nicht schnell genug geht, krabbelt er auf allen vieren zu ihr hin, hält sich strahlend an ihrem Rock fest, versucht, sich aufzurichten. Wie sehr liebt sie ihn, ihren Herzenssohn, ihren Augapfel. Ihr Herz füllt sich mit großer Freude.
Plötzlich kommen Frauen gelaufen, helfen ihr auf die Beine. Ein Mann rennt herbei, stößt aufgeregt abgehackte Sätze hervor. Die Worte dröhnen in ihrem Kopf. Sie sieht das Entsetzen in den Augen der anderen. Ihr Mund öffnet sich zu einem Schrei. Ihr Körper beginnt zu zittern und zu beben. Ihr Herz scheint stillzustehen, sie fällt.
Das alte Radio in dem halb zerstörten Fensterrahmen des gegenüberliegenden Hauses wiederholt immer wieder die Nachricht, dass ein Selbstmordattentäter zehn Menschen und sich selbst in den Tod gerissen hat.
Sie wiegt das Baby in den Armen, betrachtet atemlos das kleine, zarte Gesicht. Noch sind die Augen geschlossen, aber ein leichtes Beben der durchscheinenden Lider zeigt, dass es bald erwachen wird. Der winzige Mund ist gespitzt und wendet sich suchend hin und her. „Mein Sohn“, denkt sie stolz, ihn fest an sich drückend. Ihr Herz scheint nicht groß genug, um ihre Liebe zu ihm zu fassen. „Mein Sohn.“ Der Kleine hat inzwischen seine dunklen Augen geöffnet und schaut sie unverwandt an. Kosenamen flüsternd legt sie ihn an ihre Brust.
Verzweiflung zerreißt ihr Herz, explodiert in ihrem Kopf. Sie will schreien, aber ihre Stimme versagt. Dunkelheit umfängt sie.