Claudia Bülows neuer märchenhafter Text über Sehnsüchte und wie sie unser Leben begleiten.
Ein Junge, dessen Haar die Farbe von Kastanien zeigt und dessen Augen im leuchtenden Blau des Himmels erstrahlen, liegt unter einem mit weißen Blüten bedeckten Baum. Verträumt gleitet sein Blick zwischen Blättern und Blüten hindurch auf der Suche nach dem darüberliegenden blauen Himmel. Es sind Sehnsüchte, die ihn suchen lassen, ohne dass er eigentlich weiß, wonach er sich sehnt. Kleine, muntere Vögel kommen geflogen, setzen sich auf den Zweigen nieder. Sanft wippen sie auf und ab, drehen und wenden die Köpfchen. Sie sind wie seine Sehnsüchte, noch klein, fast unscheinbar, wenige. Der Junge möchte sie fangen, festhalten, doch sie steigen wieder in die Lüfte, und er verliert sie aus den Augen.
Ein Jüngling erwacht aus seinem Traum. Sich räkelnd und dehnend schaut er nach oben in den großen Baum, unter dem er sich ausgestreckt hat. Sein Blick verliert sich im Grün des Blätterdaches. Viele große Vögel in kräftigen Farben tummeln sich in den Zweigen. Der junge Mann fühlt ein Ziehen, ein Sehnen in seinem Herzen, möchte nach den Vögeln greifen, sie an seiner Brust bergen. Aber sie fliegen davon, verschwinden in der Ferne. Enttäuscht sinkt er zurück in seine Träume und Tränen netzen seine Wangen.
Als der Mann den kalten Wind auf seiner Haut spürt, fröstelt er, zieht den Hut tiefer ins Gesicht. Es ist Herbst geworden. Der Baum neben ihm trägt ein Meer aus gelben und roten Blättern. Der Sturm rüttelt kräftig an ihnen, reißt sie von den Zweigen. Auf den Ästen sitzen große Vögel in leuchtenden Farben. Ob er nicht einen von ihnen fangen kann? Noch steht die Leiter angelehnt. Erst kürzlich hatte er die letzten Früchte geerntet. Er klettert die Leiter hinauf, muss aber bald die Unmöglichkeit seines Vorsatzes erkennen, denn die Vögel fliegen im Schwarm davon. Verdruss macht sich in ihm breit.
Seltsam, wie schnell es Winter geworden ist, denkt der Mann, dessen Bart die Farbe der tanzenden Schneeflocken trägt. Die Sehnsüchte, die sein Herz einst erfüllten, sind verblasst, Schatten gleich. Der Baum vor ihm trägt kahle Äste. Im Frost erstarrt wirken sie leblos und tot. Die Vögel sind schon lange fort. Der Alte sehnt sich nach den bunten Blättern des Herbstes. Hat er sie damals wirklich geschätzt? Oder ihr sattes Grün im Sommer? Die Früchte, die er ernten konnte, das Blütenmeer im Frühling? Immer war es ihm nur um die Vögel gegangen! Ihnen galt sein Blick. Einfangen wollte er sie, sie sich zu eigen machen. Es war ihm nie gelungen. Erst jetzt erkennt er die Vergeblichkeit seines Tuns. Das Herz fühlt sich schwer in seiner Brust an. Er legt die Hand auf die Rinde des Baumes. Staunend erkennt er, wie ähnlich sie sich geworden sind, Hand und Rinde. Liebkosend gleiten seine Finger über den Stamm. „Mein Freund“, flüstert er, „ich habe dich geliebt, immer schon, ganz tief in mir, so tief, dass ich es nicht einmal selbst wusste. Danke für alles, was du mir geschenkt hast.“ Da erstrahlt der erstarrte Baum glitzernd im Frost. Sonnenstrahlen haben ihren Weg durch dichte Wolken gefunden, lassen ihn gleißen, leuchten. Wundersames Erstaunen befällt den alten Mann, als er sieht, dass sich mit einem Mal Hunderte von zarten, weißen Schmetterlingen auf den Ästen niederlassen. Doch wie stockt ihm der Atem, als sie plötzlich in den herrlichsten Farben der Welt zu schimmern beginnen. Niemals hat er etwas Schöneres gesehen! Tief öffnet er sich mit allen Sinnen diesem Wunder, sieht, hört, schmeckt, fühlt und riecht es. Sein Herz wird leicht und froh, scheint zu tanzen. Er lächelt. Tief atmet er den unvergleichlichen Duft ein, der in der Luft liegt. Mit einem langen, dankbaren Seufzer atmet er aus und schließt die Augen. Nun kann er sie wiedererkennen, die großen Vögel in leuchtenden Farben … sie umflattern ihn und begleiten ihn auf seiner Reise.