„Eine tiefe Sehnsucht kann mich erfassen, mich weit in den Text oder in Bilder, die eigene Geschichten erzählen, hineintragen. So geschah es wieder einmal, als ich in dem kleinen Buchladen meines Heimatortes in den ausgestellten Büchern stöberte." Ein stimmungsvoller Blog von Claudia Bülow.
Wenn ich Bücher aufschlage, lasse ich mich gerne von ihrem Inhalt verzaubern. Eine tiefe Sehnsucht kann mich erfassen, mich weit in den Text oder in Bilder, die eigene Geschichten erzählen, hineintragen. So geschah es wieder einmal, als ich in dem kleinen Buchladen meines Heimatortes in den ausgestellten Büchern stöberte.
Mein Blick fiel auf einen großen Bildband. ‚JAPAN‘ stand in schlichten schwarzen Buchstaben auf dunkelrotem Hintergrund. Darunter, weiß unterlegt, ein schwarzes tanzendes japanisches Schriftzeichen. Daneben eine etwa DIN-A4 große Fotografie. Magisch zog sie meinen Blick an und ich wollte mehr erfahren.
Ich nahm auf dem gemütlichen roten Sofa des Buchladens Platz. Es war früher Vormittag. Die Sonne schien warm durch das Fenster. Ich wurde freundlich gefragt, ob ich gerne einen Kaffee hätte. Das leise Surren der Kaffeemaschine und das gelegentliche Klingeln der Ladentür waren die einzigen Geräusche. Im Nu stand ein heißer Kaffee neben mir. Zufrieden lehnte ich mich zurück, mit dem Bildband auf den Knien, und betrachtete das Bild genauer.
Wie durch einen roten Fensterrahmen schaue ich auf eine verschneite Wiese. Dahinter befindet sich das Meer, das sich mit seinem hellen Grau in einem blassen Himmel aufzulösen scheint. Neben zwei kleinen schneebedeckten Häusern steht eine in ein langes, dunkles Gewand gehüllte Frauengestalt. Sie dreht mir den Rücken zu und scheint mit einem roten, mit Reispapier bespannten Schirm gegen das Schneetreiben anzukämpfen. Sie wirkt einsam, verloren. Schaut zum Meer, den Kopf verhüllt mit einem dunklen Schal. Ihre Fußspuren im Schnee zeigen, dass sie nur mühsam vorwärtsgekommen ist. Ich habe das Gefühl, durch eine Tür in eine geheimnisvolle Welt zu blicken. Schneeflocken tanzen mir aus dem Bild entgegen. Und ich öffne die Tür, gehe hinein in den Schnee. Trete stumm neben die vermummte Gestalt und schaue mit ihr auf das weite Meer. Wonach hält sie wohl Ausschau?
Ich wollte mehr erfahren über dieses fremde Land, zog mich zurück aus dem Bild und öffnete das Buch.
Und da finde ich sie wieder: Landschaften, in die ich hineinlaufen möchte. Rot gefärbte Ahornblätter bedecken den Waldboden. Eine einzelne Kiefer hoch oben auf einem Felsen über dem stürmischen Meer, grüner Bambus im Schnee. Ich trinke Tee mit anmutigen Frauen, steige verwitterte Steinstufen hinauf zu einem versteckt liegenden Tempel. Menschen begegnen mir, widersprüchlich, oft wie ein Kunstwerk wirkend. Wir verbeugen uns voreinander, Wildgänse fliegen rauschend auf.
Ich durchstreife verschiedene Jahreszeiten, tauche ein in heiße Quellen. Auf einem flachen Kissen sitzend, wähle ich mir unbekannte Speisen, in Blütenformen angerichtet. Ich bewundere unterschiedliche ausdrucksstarke Kalligrafien.
Lange befand ich mich so auf Reisen und bemerkte nicht, wie die Zeit verging. Erst als sich der Buchladen allmählich mit Menschen füllte und ihre Stimmen immer mehr in mein Bewusstsein drangen, tauchte ich wieder auf. Löste mich von Kirschblüten, streng angeordneten Zen-Gärten, aus Tokios tiefen Häuserschluchten, von blitzendem Chrom und Stahl. Ich verspürte plötzlich Lust auf eine Tasse Tee, schloss behutsam das Buch.
Damit ich auch zu Hause weiter auf Reisen gehen kann, habe ich das Buch gekauft. Und als ich den Buchladen verließ, schien es mir, als hätten sich einzelne weiße Kirschblüten auf meinem Haar und auf meinen Schultern niedergelassen.