Ein Buch, das mich wirklich sehr beeindruckt hat, stammt von keinem spirituellen Meister, sondern ist das Werk des amerikanischen Philosophen Stanley Cavell, der den Philosophen Ludwig Wittgenstein und den Lyriker Shakespeare liebt und den vermutlich kaum jemand als ‚erleuchtet‘ betrachten würde. Mein Spirituelles Lieblingsbuch: Der Anspruch der Vernunft.
Wenngleich Wittgensteins philosophisches Gebot, über die wirklich wichtigen Dinge zu schweigen, sehr wohl bereits Assoziationen zu den einschlägigen mystischen Traditionen weckt. Was ich an diesem Buch liebe? Cavell zeigt seinen Lesern und Leserinnen die für uns Menschen typische Beziehung zwischen Vernunft und Tragödie auf. Unsere Vernunft, so seine zentrale Einsicht, versteckt sich nämlich hinter dem von ihr so sehr kultivierten Zweifel. Zweifel, Misstrauen, Eifersucht und die hieraus erwachsende mörderische Wut – all die Themen der großen Shakespeare’schen Dramen – sind gerade deshalb für das Ego so attraktiv, weil man in den damit einhergehenden Gefühlen und Fantasien Sicherheit zu finden scheint. Aufrichtige Spiritualität findet demgegenüber seine Basis genau im Gegenteil, nämlich in Ungewissheit und Unsicherheit. Zu genau dieser Einsicht kommt Cavell, ohne jedoch dabei auf die Begrifflichkeiten der einschlägigen spirituellen Traditionen zurückzugreifen: „Im Angesicht des Zweifels zu leben, die Augen glücklich geschlossen, hieße, sich in die Welt zu verlieben. Denn sollte es eine berechtigte Blindheit geben, dann besitzt nur die Liebe sie. Und entdeckt man, dass man sich in die Welt verliebt hat, dann wäre man schlecht beraten, ihren Wert durch den Hinweis auf ihr System der Endursachen lobend zu unterstreichen. Denn damit schwände wohl die Verliebtheit, und man könnte dadurch vergessen, dass die Welt, so wie sie ist, Wunder genug ist.“ (Seite 684) Verliebt zu sein heißt, närrisch zu sein, nicht zu wissen, was die Begegnung mit dem anderen bedeuten wird, heißt, zugleich zu fühlen, dass es wunderbar ist, als auch die Angst
zu spüren, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wir erinnern uns: Den traditionellen buddhistischen Quellen nach zeichnet sich das erste Stadium der Erleuchtung – der sogenannte Stromeintritt sotapanna – durch die Überwindung des Zweifels aus. In der Lektüre von Cavells Buch begreifen wir, dass mit dieser Erfahrung jedoch nicht Allwissenheit gemeint sein kann, sondern vielmehr die Einsicht, dass der Zweifel ebenso bedeutungs- wie sinnlos ist. Diese Haltung beschreibt der Zen-Buddhismus als ‚Weiß-nicht-Geist‘. Nur wenn der ‚Zweifel-Geist‘ verstummt, kann Liebe sein. Und noch eines können wir von Cavell lernen: Das Opfer der Liebe eines anderen Menschen ist gerade deshalb so schwer anzunehmen, weil es unweigerlich ‚das Merkmal der existenziellen Endlichkeit‘ und Bedingtheit unserer eigenen Leiblichkeit mit sich bringt. In der ‚Weigerung, unvollkommen sein zu wollen‘ verlieren wir aber nicht nur die Fähigkeit, über die Welt zu staunen, sondern verwickeln uns in vielfältige private Tragödien, die subjektiv gefühlt den Shakespeare’schen Dramen um nichts nachstehen. Das Buch ist dick. Vermutlich werden es nur jene Menschen von der ersten bis zur letzten Seite lesen, die ernsthaft an Philosophie interessiert sind. Cavells zentrale Botschaft geht jedoch alle Menschen an, die Befreiung und Erleuchtung anstreben: Das Gegenteil von Zweifel ist nicht Gewissheit, sondern Hingabe und Liebe. Mir hat das Buch geholfen, in diesen Fragen Klarheit zu gewinnen und falsche Vorstellungen von Erleuchtung beiseitezuschieben.