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Zu Ehren von Roshi Bernie Glassman – gestorben am 4. November 2018 oder: Bis der letzte Name rezitiert worden ist.

Je näher dieser Tag rückt, desto mehr denke ich an ihn, den Erfinder der „Bearing Witness Retreats“ in Auschwitz, Bernie Glassman. Wahrscheinlich war es eine Gemeinschaftskreation mit seinem polnischen Freund Andrzej Krajewski, seiner zweiten Frau Sandra Jishu Holmes und anderen. Ich muss über ihn schreiben, weil sein Buch „Bearing Witness in Auschwitz“, ins Deutsche übersetzt und im „Waldhaus-Zentrum für buddhistische Studien“ um 2006 gefunden, der Beginn einer intensiven Veränderung, eines Transformationsprozesses war, der nicht enden wollte und der mich zu einem anderen jüdischen Lehrer geführt hat, bei dem ich jetzt studiere und praktiziere.
„Jetzt“ heißt seit Beginn der Pandemie, 2019.

Ich bin jetzt siebzig Jahre alt und erinnere mich lebhaft daran, dass ich mir zu meinem sechzigsten Geburtstag im April 2012 nur finanzielle Beiträge für das nächste Retreat (Einkehrtage) in Auschwitz, das mein drittes sein würde, gewünscht hatte. Ich lernte auch, vor und vielleicht auch nach den Exerzitien einige Zeit zu reservieren. Das bedeutete natürlich zusätzliche Kosten, die zu dieser Zeit in Polen nicht allzu hoch waren, aber jeder Euro im November zählte, weil dieses Vierteljahr für Erwachsenenbildnerinnen wie mich stets zu kurz war.

Nach fünf Jahren, von 2010 bis 2014, fünf Retreats und insgesamt sechs bis sieben Wochen in Polen, war Krakau für mich eine der europäischen Städte, die mir sehr am Herzen lagen. In den Osten zu reisen, war nichts, was Deutsche leicht in Erwägung ziehen würden, außer für die Liebhaber dieser Länder, die oft und zu Recht für die niedrigen Preise, die Einfachheit des Lebens und des Lebensstils und die Freundlichkeit seiner Bewohner geliebt wurden.

Die Essenz von Krakau ist: Obwohl die Stadt recht klein ist, ist sie erstaunlich urban mit einem reichen geistigen und kulturellen, vor allem vielleicht musikalischen Beitrag. Ich liebte die überfüllten und blumengeschmückten Kirchen, die ersten Synagogen, in die ich schüchtern meinen Fuß setzte. Wir aßen koscher, an unserem ersten Abend, als viele der Teilnehmer bereits eingetroffen waren, was hauptsächlich am Freitagabend der Fall war (am Montag, in den frühen Morgenstunden, würden die Exerzitien beginnen, oder besser am Sonntagnachmittag. Vor dem wunderbaren Essen erinnere ich mich besonders an eine sehr bewegende Schabbat-Feier mit einer Rabbinerin). Zu dieser Zeit, also am Sonntagnachmittag, traf man sich zum ersten Mal zwanglos im Hotel, wo die Leiterinnen und Leiter und einige Dutzend Exerzitien-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer untergebracht waren: Alle erhielten ihr Namensschild und ein Infopaket mit Liturgie, Zeitplan, Zimmernummern für die Unterbringung im „Zentrum für Dialog und Gebet“ und mehr. Seit ich 2019 noch einmal teilgenommen hatte, werden sich weitere Dinge geändert haben. Das Hotel in Krakau wurde nach Bernies Tod in eine ruhigere Umgebung verlegt, die Gruppen wurden kleiner (zumindest war es 2019 so), das Programm wurde an die neuen Umstände angepasst. Sagt das etwas Wichtiges über die Einkehrtage selbst aus? Nein, natürlich nicht.

Ich freue mich darauf, selbst ein Retreat zu organisieren, vielleicht mit einer Handvoll Leute, und wenn niemand kommt, würde ich es allein machen, was Vor- und Nachteile hat. Durch das Schreiben Zeugnis ablegen: Ich liebe es dennoch, dies in und mit einer Gruppe zu tun, so leidenschaftlich wie ich seit mehr als dreißig Jahren Gruppenleiterin bin.

Bernie Glassman

Bernie sagte – und das fand ich bemerkenswert –, dass „Auschwitz“ natürlich für sich selbst spreche, aber auch ein Symbol sei

⁃ für alle Konzentrationslager und ähnlich unterversorgten Orte in der Welt, an denen Völkermorde geschehen sind,
⁃ für alle Menschen, Opfer und Täter, die am Holocaust und anderen Massenmorden beteiligt waren,
⁃ für das Nachdenken darüber, was Menschen anderen Menschen antun. Er fragte wörtlich: „Was tun wir den anderen an?“,
⁃ für die Seelen. Ja, manchmal oder oft benutzte er den jüdischen oder christlichen Begriff „Seele“. Das hat mir gefallen. Ich fühlte mich auch von „den Seelen“ gerufen. Oft musste ich auf ihren Ruf warten. 

Wir lernten, dass die Liebe auch da war! Überall, wo Menschen zusammen sind, gibt es auch Liebe, Großzügigkeit, Aufopferung, Geheimnis, Glaube. Der Glaube wurde verloren und der Glaube wurde gefunden oder er wuchs.

Das Beste war und ist wohl die Beständigkeit, das Durchhaltevermögen, mit dem Bernie und seine Frau und Freundinnen und Freunde diese heilige Mission (mein Wort) über mehr als zwei Jahrzehnte verfolgten.

Ich bete, dass die Exerzitien so lange abgehalten werden, bis der letzte Name der Namenslisten von Yad Vaschem gesungen, auswendig gelernt wurde, bis die letzte Niederwerfung vor der heiligen Holzkiste mit all den Namenslisten gemacht wurde, in der Mitte des großen, manchmal riesigen Kreises von Zen-Peacemakern, Friedensstiftern, Exerzitien-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern, direkt an der Selektionsrampe in Auschwitz-Birkenau.

Soweit ich weiß, hatte sich Bernie zu drei weiteren größeren Projekten mit Visionscharakter verpflichtet:
⁃ In einem Kibbuz leben
⁃ Koordinierung und Teilnahme an Straßen-Retreats
⁃ Ein ethisch fundiertes Unternehmen zu gründen und dies sowie alle oben genannten Projekte als Praxis zu sehen, als friedensstiftendes Handeln aus dem Nichtwissen heraus

Ich liebe diese langfristigen Projekte, für die wir einen langen und tiefen Atem brauchen.

Die drei Leitsätze bringen diese Voraussetzungen prägnant auf den Punkt:

⁃ The Art of Not-knowing
⁃ Die Kunst, Zeugnis abzulegen
⁃ Die Kunst des Handelns, die das natürliche Ergebnis der beiden anderen Künste ist

Bernie nannte sie „Die drei Grundsätze“.
Heute nenne ich als Künstlerin sie „Die drei Künste“ oder „Die drei Übungen“.

Die Einsicht in die drei Künste rief mich zur Vertiefung des Zen. Auch wenn Zen zu nichts nütze ist, wie die Weisen sagen, so frage ich mich, ob ich die letzten drei Jahre der Covid-Irritationen, der Ängste und schnellen Veränderungen ohne rigide Zen-Praxis so gut überstanden hätte – was während der Lockdowns und am Bildschirm eben möglich war. Ich frage mich, wie sozial engagierte buddhistische Fähigkeiten und Praktiken sowie die tägliche – oder in anderer Weise regelmäßige – Zen-Praxis in der wunderbar stabilen Everydayzen-Sangha und in unserer Tempel-Sitzgruppe sowie oft auch in meinen deutschen Sitz- und Schreibgruppen uns geprägt, gehalten, aufgebaut haben und wir einander. Sie alle – und ich möchte das ungeheuer reiche, liebevolle und schöne Angebot des Upaya-Zen-Zentrums nicht unerwähnt lassen – haben dazu beigetragen, unsere Erfahrungen und Reaktionen auf die zutiefst beunruhigenden und nahen Kriegshandlungen, aber auch auf die sehr beglückenden Phänomene und Erfahrungen aus verschiedenen Quellen zu formen. Alles und jedes Wesen würde schließlich unsere Reaktionen, unsere Handlungen, unser Leben beeinflussen, wie auch wir Einfluss ausüben.

Interreligiöse Friedens- und Liebesarbeit – ERDE & WASSER & LUFT selbstverständlich dazugezählt – ruft mich im Moment, um mich auf den Winter vorzubereiten, in dem einige von uns mehr leiden werden als andere, unversorgt sterben werden, in Straßen, Lagern, auf Fluchten, in Containern, Wäldern, Gewässern. Ich hoffe, so einige von ihnen zu finden und ihnen zu helfen und Wärmendes zu bringen und vielleicht kreativer zu sein, als wir es bisher gedacht haben. Aber zumindest können wir Raum schaffen oder Raum sein für all das Leiden und nicht aufhören, Tonglen zu praktizieren. Manchmal habe ich festgestellt, dass die Tonglen-Praxis diejenige ist, die wir alle an Orten großer Bestürzung geübt haben, auch ohne es zu wissen. Wir sind bereit, das einzuatmen, was wir sehen und hören, wir sind bereit, es uns zu Herzen zu nehmen, wir sehnen uns danach, uns selbst zu geben, den Ausatem, der nun gereinigt und transformiert ist, direkt an die Orte und Wesen, von denen die Rede war.

Danke, Bernie und Eve, die alles geschrieben hat und noch mehr, schätze ich, danke allen Freundinnen und Freunden von Bernie, danke, Auschwitz, danke allen unsichtbaren Freunden!
In Solidarität mit allen, die jetzt in die Nähe von Auschwitz-Birkenau gehen und sitzen und den Friedhof in einen heiligen Tempel verwandeln, der als Tempel ja schon immer da war – aber erkannten wir ihn?

Mit einer tiefen Verbeugung!

Monika Jion

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Bilder © unsplash

Monika Winkelmann

Monika Winkelmann

Monika Winkelmann, geboren 1952, Mutter einer erwachsenen Tochter, geschieden seit 2019, hat 1980 mit 28 Jahren ihr erstes Meditationswochenende in Hamburg besucht. Diese tiefgreifende Erfahrung sowie ihr Leben als Alleinerziehende der Tochter Lisa, geb. 1984,  bewirkten, dass sie viele Jahre a...
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