Möglicherweise ist dies mein Lieblingsthema, da ich in meinem Leben außer den zu uns Menschen gehörenden Schwellenerfahrungen – unter anderem schwierige Geburt, Umzüge, Krankenhaus und Kinderheim, Scheidung der Eltern, Unfall mit Nahtoderfahrung – also Gelegenheiten „en masse“ hatte, zu sterben und wieder aufzuerstehen.
Ich erinnere mich an einen Urlaub in Italien, den ich mit meiner jungen Tochter gemacht habe. Es handelte sich um ein Angebot im noch jungen „Agroturismo“ im Hinterland der Toskana. Lisa und ich hatten einen Wohnwagen gemietet, den wir nur zum Schlafen betraten. Eine Gruppe von interessanten Erwachsenen mit ein paar Kindern war zusammengekommen, wir teilten Mahlzeiten, Freizeiten, ein wenig Arbeit im Garten und in der Küche, Wanderungen, Ausflüge zum Meer. Das Osterwetter war immer schön, sonnig, und der ausladende, alte Baum mit dem riesigen Tisch darunter bot uns nicht nur beim Essen Schatten. Abends haben wir meist gesungen oder erzählt, mit Italienern ist es nie langweilig, weil sie sehr gut integrieren können und somit dafür sorgen, dass jede*r beteiligt ist, seinen oder ihren Platz findet. Einmal war eine Frau bei uns, die Hände lesen konnte und auch astrologisch bewandert war. Fast alle zeigten ihre Handinnenflächen und hörten der Weissagerin zu. Zu meiner Hand sagte sie, und zeigte dabei auf die Linien, die bei mir schon in den Dreißigerjahren recht ausgeprägt waren: Du wirst noch viele Stirb- und Werdeprozesse haben. Irgendetwas sagte sie auch zu einer abgebrochenen oder leicht zerfaserten Linie, aber das habe ich vorsichtshalber vergessen.
Schwellenerfahrungen machen wir inmitten solcher Stirb- und Werdeprozesse. Wir könnten sie auch „Lebensübergänge“ nennen, manche sprechen von Initiationen, die aber das Ergebnis schon vorwegnehmen, daher möchte ich diesen Begriff hier (noch) nicht verwenden. Für den Begriff „Schwelle“ habe ich mich entschieden, da er so konkret ist und die Älteren von uns zumindest noch leicht erhöhte Schwellen erinnern, vielleicht mit Metall eingefasst und verstärkt, sodass junge Kinder oder ganz Alte Schwierigkeiten mit der Schwelle haben könnten. Sie markierte eben sehr deutlich Eingang und Ausgang eines Hauses, eines Zimmers, verlangte nach Aufmerksamkeit. Heute öffnen sich manche Türen automatisch, wenn wir uns einer Lichtschranke nähern – eigentlich ein Verlust an geforderter Achtsamkeit, die uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Welch‘ große Rolle haben Schlüssel früher gespielt! Sie konnten riesig groß sein, für schwere Tore, sich nur mühsam herumdrehen lassen, verloren, gestohlen, wiedergefunden werden, und manchmal quietschten die alten Türen, oder die rostige Klinke ließ sich kaum noch bewegen.
Manchmal oder oft sind die Räume einfach zu eng geworden, in denen wir eine Zeit lang gut lebten und uns geborgen fühlten. Selbst unsere Schwestern und Brüder, die in und mit Zelten lebten, wollten sicherstellen, dass der Eingang zu ihrem Zuhause für Mensch und Tier unzugänglich gemacht werden konnte. Ein Kinderzimmer wird irgendwann zu klein, oder das ältere von zwei Geschwistern bekommt ein eigenes Zimmer. Kindergarten und Schule markieren besondere „Einschnitte“, sagen wir. Andere Erwachsene als die Eltern und enge Verwandte tragen jetzt Mitverantwortung für das Kind. Vielleicht wurden Kommunion, Konfirmation intensiv erlebt und gefeiert. Die Menstruation wurde in meiner Jugend leider meist nicht positiv besetzt, daher nicht gefeiert, aber was für eine einschneidende Erfahrung! Die oder der Jugendliche bekommt ein eigenes Bad oder erhält den Schlüssel zum eigenen Zimmer oder ein anderes Privileg, um sein oder ihr Erwachsenwerden zu honorieren. Neue Verantwortlichkeiten sind damit verbunden bzw. Entbindung der Eltern von diesen Verantwortlichkeiten. Dazwischen mögen Umzüge, Preisverleihungen, Mutproben, erste Verliebtheiten eine große, nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben.
Ernstere Krankheiten, Nahtod- und Todeserfahrungen von Tieren und Menschen, andere Verlusterfahrungen, Trennung und Scheidung der Eltern, Unglücke, Gewalteinbrüche … ein ernstes Gespräch, das man niemals vergaß, ein Traum, der wegweisend wurde … all dies und mehr konnte in unserem Leben zu Erfahrungen führen, durch die wir den alten, vertrauten Raum entweder verlassen mussten oder wollten oder sogar aus ihm herausgeschleudert wurden. Manchmal landet man direkt im neuen Raum, doch ist das nicht unbedingt gesund, denn man kann dabei krank werden, die Orientierung verlieren und muss sich plötzlich umdrehen und sucht nach der Schwelle, die man nicht hat wahrnehmen können. Aus diesem Grund gibt es Menschen, die zu Mentoren, Begleiterinnen von Initiationsprozessen werden und behilflich sind an beiden Enden des Lebens: beim Sterben und bei der Geburt. Ich wusste schon früh, dass ich zu dieser Spezies – vom Archetyp her – von „Heilerin“ gehöre.
Schwellen sind zum Wahrnehmen und Auskosten da. Wenn wir den Mut dazu aufbringen, Meisterinnen des Loslassens werden, können sie unbändige Freude schenken. Sie kennzeichnen einen Zustand, wo die Tür zwar schon geöffnet ist oder immer mal offen stand und den Blick freigab auf den neuen, attraktiven Raum, der uns magisch anzog. Immer mehr näherten wir uns der Schwelle, wagten intensive Blicke in das Neue, wurden neugierig und mit Energie erfüllt. Doch noch war etwas zu erledigen, Angst oder Ansprüche von denen, die im alten Raum lebten, hielten uns zurück. Da war noch etwas abzuschließen, hinten, bevor die Tür sich weit öffnen und offen bleiben konnte.
Der Schwellenraum, buddhistisch „Bardo”, kann sich scheußlich anfühlen, man oder frau fühlt sich wie ein Teenager, im Nichtmehr und Nochnicht, hin und her wippend, mit einem Fuß im Alten und einem Fuß im Neuen. Abwechselnd fühlen wir uns gelähmt, schwungvoll, neugierig und verzagt. Sobald wir fest auf beiden Beinen stehen, fühlen wir uns sicher, aber wann ist das schon? Das geht nur, wenn die Schwelle sehr breit ist, also verbreitern wir imaginativ die Schwelle. So kann diese Lebensweise Jahre dauern, während wir Wurzeln schlagen auf der Schwelle und sich scheinbar nichts bewegt, wie bei einem Baum im Winter.
Ich behaupte, aus eigener Erfahrung, dass eine kontemplative Praxis uns genau dabei hilft, scheinbaren Stillstand, der dazu dient, innere Sammlungs- und Reifungsprozesse zu vollziehen, auszuhalten und diesen letztlich lebensspendenden Sterbensprozess zu gestalten. Denn irgendwann ist es ausgestanden, und wir schauen nur noch nach vorne, in den neuen Raum hinein, der plötzlich hell erleuchtet ist, wir ziehen das hintere Bein nach, während die Tür hinter uns leise ins Schloss fällt. Da sind nur noch Weite, Helligkeit, Offenheit.
Alles ist integriert, der alte Raum und die Schwelle sind nicht mehr vorhanden, die Wände fallen ins Nichts, als wären sie aus Pappe gewesen. Es war das letzte zu durchschreitende Zimmer gewesen. Sie war frei und hob die Arme, ihre Handflächen geöffnet zum Himmel. Als Loslassende würde sie jetzt weitergehen.
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