Fast möchte ich sagen, dass er „plötzlich und unerwartet“ gestorben ist. Für mich! Für mich kam die Todesanzeige aus heiterem Himmel.
Für ihn selber vielleicht gar nicht, vielleicht hatte er ihn kommen sehen, den Tod, vielleicht manchmal herbeigewünscht – und seine Angehörigen und Freunde: Möglicherweise freuen sie sich ein bisschen und sind erleichtert, weil Don nicht so viel hat leiden müssen. Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung, hatte schon länger nichts mehr von ihm gehört und natürlich wieder den Zeitpunkt verpasst, einfach einen Brief zu schreiben, der ihm vielleicht hätte vorgelesen werden können. Denn, wenn ich an ihn dachte, dann so: Ich glaube, ihm geht es nicht gut, er tritt so gar nicht mehr in Erscheinung, und man erfährt auch nichts über ihn. Ich jedenfalls nicht.Don Singer, Rabbiner und von Bernie Glassman authorisierter Zen Lehrer, der in Santa Barbara lebte, befreundet mit Bernie war und den ich bei mehreren Auschwitz-Zeugnis-Ablegen-Retreats traf. Für manche Zen-Lehrer, Rabbis, kann man noch beten, wie gerne hätte ich das getan, wir hören etwas von unseren Lehrerinnen und Lehrern auf Facebook, manchmal „posten“ sie sogar selbst etwas. Doch oft gehen sie diskret und zurückgezogen diesen Weg zunehmender Hinfälligkeit. Sie oder ihre Angehörigen wollen niemanden belasten und vielleicht auch nicht belästigt werden mit (zu vielen) Fragen und Wünschen, die kaum noch zur Kenntnis genommen werden können.
ÜBER Don zu schreiben ist, wie AN ihn zu schreiben. Er und die Freundschaft zu ihm wird noch einmal sehr lebendig. Ich hatte nie das Empfinden, ich müsse meine Worte auf die Goldwaage legen, was mich befangen gemacht hätte. Im Gegenteil eher. Don hatte die Fähigkeit, in mir – und ich glaube, in jedem Menschen – das kindlich Spontane zum Vorschein kommen zu lassen. Also auch eine einfache, gelöste Sprache! Ob ich klagte, trauerte oder empört war, ob ich ihn Anteil nehmen ließ an dem, wie ich gerade lebte und wie es bei mir aussah. Ob ich weinte oder wir miteinander lachten – und das taten wie sehr oft! –, es war alles in Ordnung, das Leben erschien mir sofort leichter, die Bürde der Einsamkeit war deutlich verschwunden, die Lampe schien heller – denn Don rief immer an, wenn es in Deutschland dunkel war. Wir lernten uns in Polen kennen, bei mindestens zwei Zeugnis-Ablegen-Retreats in Auschwitz, und besonders erinnere ich mich an unsere letzte Begegnung, 2014, wo wir auch durch Krakau liefen, vor und nach den Einkehrtagen. Ich hatte kein Bedauern oder Herzleid beim Abschied. Nicht wirklich, wie ich das sonst durchaus von mir kenne. Freunde trennen sich so, sie wissen, sie sind verbunden, komme, was wolle. Nie hatte ich Angst oder Sorge, etwas Falsches gesagt zu haben. Im Gegenteil, Don begrüßte grundsätzlich alles, nahm mir Angst und Scham und Ärger – wie ging das? Er ließ alles als völlig angebracht und normal erscheinen, manchmal regte er sich mit mir zusammen auf, weil irgendein XY meinen Einsatz für irgendein Projekt nicht gewürdigt hatte (als wenn derjenige das Projekt alleine auf die Beine gestellt hatte), oder weil dieser mich gerügt hatte, weil ich in Birkenau zu laut gesungen hätte. Ach, du meine Güte, rief Don sinngemäß, bitte, Monika, sing so laut du möchtest und kannst! Ich fand das sehr aufschlussreich, weil das Argument, leise zu singen, ja aus Pietät vor den jüdischen Ermordeten vorgebracht worden war. Ich habe nicht selten erlebt, dass diejenigen, die man zu schützen glaubte, Jüdinnen und Juden, sich hinreichend oder sogar recht sicher mit mir fühlten, weil ich selber absolut null an der Monstrosität der vollzogenen Judenvernichtung zweifele. Wie ich auch finde, dass wir als nichtjüdische Deutsche die riesigen, bodenlosen, aber auch scheinbar kleineren Taten unbedingt zu uns nehmen müssen. Don schien dergleichen nicht zu schrecken, ich war nicht die erste deutsche Nachfahrin von Nazis (ich kann ja auch schlecht die Einzige gewesen sein, wie es manchmal den Anschein hat), mit der dieser großherzige Rabbi sich anfreundete, und auch nicht die Letzte.
Nichts Menschliches war ihm fremd, buchstäblich, deswegen gab es auch nichts, über das nicht zu sprechen, zu weinen, aber vor allem: zu lachen war. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat, das können nichtjüdische Deutsche kaum nachmachen (das dürfen sie auch nicht), aber sich mitreißen lassen, das ging mit Don und auch mit einigen anderen jüdischen Teilnehmern und Teilnehmerinnen. Fröhlichkeit und Eins-Sein scheinen auf, wenn ich an meinen Freund denke, der mir unter anderem von Thomas Mann erzählte, mit dem sein Vater befreundet war bzw. die ganze Familie. Man wohnte schräg gegenüber, und ich werde nie vergessen, dass Don Thomas Mann im Schlafanzug gesehen hat. Für uns Nachkriegsdeutsche mit humanistischer Bildung kam Thomas Mann direkt nach Goethe, Schiller und Lessing. Die Singers waren auf Du und Du mit den Manns, und ich staunte und kaufte mir gleich die dicken Bände des Dichters „Joseph und seine Brüder“, aus denen der Rabbi zitierte, nahm eines 2019 mit nach Polen, habe dann aber nur dieses eine gelesen. Don hingegen kannte alle Bände, er war überaus belesen. Ich kaufte mir ein Buch von Martin Buber, das er mir empfahl, und wir begannen, über dieses Buch zu sprechen. Wir hätten wohl daran weitergearbeitet, wenn ich nicht in jenem Winter so wund gewesen wäre, durch die Trennung von Reiner, meinem Mann, der im Januar eine eigene Wohnung suchte und fand und im Februar oder März aus der gemeinsamen Wohnung auszog. Das war natürlich alles fürchterlich und schmerzhaft, aber diese Empfindungen durften zu jener Zeit gar nicht in aller Fülle leben. Don wusste das besser als ich und stellte sich selbst als vertrauter Freund und das HEILIGE LACHEN für einige Monate zur Verfügung. Einmal rief er aus dem Auto an, draußen war Sommer in Santa Barbara, die Sonne blendete den Bildschirm, er wartete auf seine Frau, wo blieb sie denn, und mit der Wohnung war irgendetwas Anstrengendes, was ich nicht genau verstand. Jedenfalls traf er sich anscheinend oft draußen, auf Parkbänken, mit den Menschen seiner Gemeinde. Er erzählte auch von seiner Frau, eben wie ein Freund, sodass ich sie mit lieben durfte und konnte. Eines Abends, als er erst spät zum Telefonieren kam – ich glaube, er hatte sehr viel zu tun, beklagte sich aber nie –, war ich schon so müde. Da sang er mir ganz zart ins Ohr. Mir liefen die Tränen über die Wangen. So innig, sanft und heilend hatte noch nie jemand in mein Herz gesungen, jedenfalls kein Mann. Ich glaube, Dons Kunst bestand darin, jeden Kummer, vor allem aber die überflüssigen Sorten von Kummer, so zu besingen, dass diese erkannten, es sei an der Zeit zu gehen. Manchmal habe ich nichts in den Taschen, kein Geld, oder nur Scheine, die ich nicht weggeben möchte. Dann bin ich schon bis auf ein paar Meter an die Pützstraße herangekommen, dem Mittelpunkt unseres unaufgeregten Viertels, und schon kommt die oder der erste Wohnungslose in mein Gesichtsfeld. Ich übe also seit Jahren, diese Menschen auf dem Boden unserer Straßen nicht zu übersehen – was sie übrigens am schlimmsten finden –, sondern sie freundlich zu grüßen, so, als sähe ich meine beste Freundin, mein einziges Kind. Oft stellt sich sogar eine gewisse Fröhlichkeit ein, und ich grüße aus dieser heraus. Manche kenne ich mit Namen, den Netten aus Rumänien zum Beispiel, der so gut Deutsch spricht und außerordentlich höflich ist. Nirgendwo anders möchte er leben als auf der Straße.
Das i-Tüpfelchen zu dieser Haltung habe ich von Don geschenkt bekommen. Nämlich nicht zwangsläufig in Trübsinn zu grüßen, weil wir denken, es gehöre sich so. Nein, ich grüße oft strahlend, bester Laune, so, als wenn mein Gegenüber das Schönste wäre, was ich an diesem Tag zu sehen bekäme. Dazu verhalf mir Don, der G‘tt, den großzügigen, schenkenden G‘tt überall sah, natürlich auch und besonders in der Person, der er gerade begegnete. Und, mal ehrlich gesagt, wenn wir wüssten, wie müssten morgen unser Leben hergeben: Können wir dann wirklich bezweifeln, dass der Erhabene JETZT UND HIER ANWESEND ist, in dieser Beziehung? Nein, das können wir nicht. Don ist nicht tot, ich spüre ihn in meinen Adern und zwischen uns. Der Tod muss Dons Freund gewesen sein, so lebendig wie er war. Danke, Freund und Rabbiner Don Singer.
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