Ist es nicht so, dass der Mensch als das am weitesten entwickelte Wesen im Universum gilt? Sehe ich mir nun die Situation auf unserem Planeten an, stelle ich mir die Frage, wie das sein kann … Ist das Tier somit nicht „weiter“ als der Mensch?
MoonHee beantwortet hier Fragen des alltäglichen Lebens oder Fragen, die ihr schon immer einmal stellen wolltet. In ihrem ersten Beitrag „Wie geht es dir heute? Danke, gut!“ findet ihr mehr Informationen dazu.
Antwort MoonHee:
Ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier wirklich so groß oder gibt es mehr Gemeinsamkeiten, als wir denken? Bei Schimpansen und Menschen sind 98,7 % des Genoms identisch. Auch sollen 95 % des genetischen Erbguts der Maus in ähnlicher Form im Menschen vorkommen. Trotzdem empfinden wir uns biologisch eindeutig als Mensch und nicht als Tier. Manche Menschen fühlen sich durch den Vergleich mit Affen zutiefst herabgewürdigt und beleidigt. Hingegen betrachten einige Forscher den Menschen und den Menschenaffen aufgrund des gemeinsamen genetischen Erbguts als eine einzige Gattung. Unabhängig von diesem Diskurs und ihrer Spezieszugehörigkeit sind Tier und Mensch Leidensgenossen. Beide Arten sind fühlende Wesen und empfinden Schmerzen. So tritt der Philosoph Peter Singer für die Rechte von Tieren ein. Zum Beispiel sollte man nach Singer Menschenaffen Grundrechte zugestehen. Dazu zählen: das Recht auf Leben, der Schutz der individuellen Freiheit und das Verbot von Folter. Dem ist nichts entgegenzusetzen. Das Recht auf Leben und maximale Leidfreiheit sind universelles Recht, das allen Lebewesen und nicht allein dem Menschen zusteht.
Obwohl die meisten Menschen dem zustimmen würden, fehlt es an konsequenter Umsetzung. Auch wenn Leben immer auf Kosten anderer geht – was dem einen Fülle ist, ist dem anderen Mangel, Leben ist ein Plus-Minus-Prinzip –, darf jedoch nicht absichtlich oder durch Ignoranz anderes Leben eingeschränkt oder genommen werden. Der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt in der Fähigkeit, sich dessen bewusst zu sein. Und damit einhergehend die Fähigkeit zu Liebe, Empathie, Mitgefühl und Gewissen. Fehlen dem Menschen diese Eigenschaften, so kann man ihn wohl kaum einen Menschen nennen. Der Mensch zeichnet sich gegenüber einfacheren strukturierten Lebewesen durch Menschlichkeit aus.
Empathie, Mitgefühl, sogar Liebe werden gerne auch Tieren zugesprochen.
Wir sollten uns aber davor hüten, Tiere zu vermenschlichen. Da der Mensch sich allzu gerne als Referenz für jenes und dieses ansieht, neigt er zu einem Anthropomorphismus. Hier werden menschliche Eigenschaften auf alles Nichtmenschliche übertragen. Diese Übertragung beschränkt sich nicht nur auf Lebewesen. Auch Dinge und Gott sind davon betroffen. Denken wir mal an das Tamagotchi in den Neunzigern oder an die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Und was Gott betrifft, ist er Mensch im Sinne eines Übermenschen. In ihm wird alle Menschlichkeit auf ideale Weise verkörpert. Der Mensch liebt das, was ihm Wohlgefühl beschert. Jedoch sollten andere Lebewesen um ihrer selbst willen geliebt und geachtet werden und nicht, weil sie uns scheinbar ähneln oder weil wir uns in ihnen wiedererkennen.
Auf die Frage: Wie viel Mensch im Tier steckt, folgt die Frage: Wie viel Tier steckt im Menschen?
Der Mensch mag ein Primat unter Primaten sein, ein Tier unter anderen. Aber, wie Aristoteles schon erklärt, ist der Mensch „zoon logon echon“, ein denkendes Tier. Teilhard de Chardin ergänzt: „Der Mensch ist nicht mehr nur ein Seiendes, das weiß, sondern ein Seiendes, das weiß, dass es weiß.“ Der Mensch besitzt ein Ichbewusstsein. Im Gegensatz zum Tier kann er auf sich selbst Bezug nehmen. Er nimmt sich als denkendes, fühlendes und handelndes Individuum wahr. Ferner kann er sich in ein rechtes Verhältnis zu seiner Außenwelt setzen. Er hat eine Vorstellung vom Guten und kann sich davon motivieren und leiten lassen. Als denkendes und wissendes Tier kann er das Tier in sich zähmen und im besten Fall transzendieren.
Der Mensch, zivilisiert und kultiviert, lässt sich längst nicht mehr auf bloße Instinkte und Triebe reduzieren. Doch Machtansprüche, Krieg, Gewalt, Ausbeutung, Gier und Missbrauch zeigen eine andere Realität. Pessimisten und Misanthropen beschreiben den Menschen als das schlimmste Tier überhaupt. Ein Tier, das Krieg gegen alle führt. Wir wissen, dass wir dem Tier damit Unrecht tun, denn Tiere rüsten weder zum Krieg auf noch ergötzen sie sich an der Not oder am Leid anderer Lebewesen. Ohne Frage bedeutet Leben, ob pflanzliches, tierisches oder menschliches, immer ein Kampf um das Überleben. Allerdings hat der Mensch – darin liegt sein Alleinstellungsmerkmal – die Wahl, wie er überleben will! „Krieg aller gegen alle“ (Hobbes) oder „Überleben aller für alle“?
Der Mensch als Bewusstseinswesen ist ein Möglichkeitswesen. Nur wo Möglichkeiten vorherrschen, also wo auch etwas anders sein könnte, kann es einen freien Willen geben. Ohne Wahlmöglichkeiten und Alternativen ergibt Freiheit keinen Sinn. Der Mensch ist deshalb das höchstentwickelte Lebewesen bzw. hat sich deshalb so erfolgreich durchgesetzt, weil er in seinem Handeln nicht determiniert ist. Freies Handeln ist nicht instinktiv oder triebgebunden, sondern geschieht willentlich. Ganz gleich, wie sehr wir Tiere lieben: Willensfreiheit ist eine Eigenschaft, die allein dem Menschen zukommt. Trotz der biologischen Veranlagung, seine Gene weiterzugeben und zu streuen, kann der Mensch sich gegen Nachwuchs entscheiden und ein monogames Leben führen. Trotz Hunger ist er in der Lage, eine Weile auf Essen zu verzichten, um eine Fastenkur zu machen. Ebenso besitzt er ein Raum- und Zeitgefühl und kann denkerisch, sozial oder künstlerisch tätig sein. Das Tier überlegt nicht, wohin es nächstes Jahr in den Urlaub fahren möchte, oder ruft zum Streik auf oder versucht, weniger zu pupsen, um das Klima zu entlasten.
Freiheit ist schön.
Wir alle wünschen uns mehr als weniger Freiheit. Tragischerweise gehört zur Freiheit, dass sie auch missbraucht werden kann. Der Mensch ist frei (willentlich), sich selbst und andere durch Drogen, Konsum und Gier zugrunde zu richten. Es liegt im Wesen der Freiheit, sich auch gegen Freiheit richten zu können. Im schlechten Fall zeigt sich das durch den Rückfall ins Tierische bzw. ins Triebhafte. Darunter fallen alle Laster, die Selbstsabotage sowie unmenschliches Verhalten. Die wunderbarste und erhabenste Form der Freiheit von Freiheit ist die Liebe. Sie bricht das Diktat der Freiheit auf. Indem die Liebe sich verschenkt, ist wahre Freiheit möglich. – Um des Geliebten willen verzichtet der Liebende auf seine Freiheit (Willen). Somit ist die Liebe Freiheit schlechthin.
Wir denken, dass die Liebe ein schönes Gefühl ist. Doch sie ist viel mehr als das. Soll Liebe nicht nur Trieb sein, so braucht sie Vernunft. Nur weil der Mensch zur Vernunft befähigt ist, ist er frei zu lieben. Die Liebe ist nichts Passives, kein Zwang, kein Instinkt, dem es blind zu folgen gilt. Sie ist eine aktive Entscheidung, eine Haltung, die willentlich getroffen werden möchte. Das heißt aber auch, dass nur der Freie wirklich lieben kann.
Dass die Welt so ist, wie sie ist, liegt daran, dass der Mensch sein Menschsein noch nicht erfüllt. Getrieben von Ängsten, von Haben und Wollen, ist er weniger als ein Tier. Versteht er sich jedoch als geistig freies Wesen, wird er (wie) Gott. Dann ist er Mensch in seiner reinsten Form. Für den Psychoanalytiker und Humanisten Erich Fromm steht fest: „Gott, das bin ich, sofern ich menschlich bin.“
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