Die Tiefenökologin Joanna Macy ist am 17. Juli verstorben mit 96 Jahren. Sie war Rebellin, Philosophin, buddhistische Lehrerin – vor allem eine Liebende des Lebens. Ihr Tod berührt weltweit Tausende. In der U\W No. 128 aus dem Frühjahr 2024 gab sie uns dankenswerterweise noch ein Interview.
Manchmal, wenn Menschen über die letzte große Schwelle gehen, wird erst im Abschied wirklich bewusst, welche immense Rolle – auch aus der Ferne – sie für das eigene Leben hatten. Diese Einsicht haben in den letzten Tagen wohl viele Tausende gehabt, als sie vom Tod der 96jährigen Joanna Macy (2.5.1929 – 19.7.2025) hörten und dem Echo ihrer Weisheit in sich nachhorchten.

Denn diese große Seele hat Unzählige in allen Ländern der Welt mit ihrer Liebe zum Leben und zum blauen Planeten berührt und sie auf den Weg in eine lebenswerte Zukunft geschickt, die vielleicht erst Generation nach der eigenen Lebensspanne realisiert wird. „Hoffnung“, so lehrte sie „entsteht im Handeln!“
Ökophilosophin, Religionswissenschaftlerin, Pionierin der Systemtheorie, die „große Dame der Tiefenökologie“ hat man Joanna Macy genannt.
Aber sie war als lebenslang Suchende auch eine der bedeutendsten buddhistischen Lehrerinnen, globale Therapeutin für die verwirrten Bewohner der industriellen Wachstumsgesellschaften, heilend Mitfühlende für unzählige Öko-Aktivisten, die ausgebrannt im Widerstand gegen die weltweite Zerstörung hoffnungslos zu ihr kamen.
Eine, die der tiefen Verzweiflung über das, was Menschen dem Wunderwerk Erde antun, Raum gab, Tränen und Wut begrüßte. Und die dann das transformative Wunder vollbrachte, diese „Despair“ in „Empowerment“, Verzweiflung in Ermutigung zu verwandeln.
Und Joanna Macy war eine große spirituelle Lehrerin – ohne da von sich selbst zu behaupten –, die tiefe Dankbarkeit fühlte, in diesen verwirrenden Zeiten am Leben zu sein, in denen viel zerstört, aber auch so viel zu gestalten ist und positive Zukunft geschaffen werden kann.
Die vor heiliger Wut kochen konnte, und im nächsten Moment vor Lebensfreude sprühte. Eine, die forderte, „das Herz soweit aufbrechen zu lassen, dass es die ganze Welt in sich aufnehmen kann“ – um dann diese Liebe und Verbundenheit in politische, soziale und ökologische Aktion zu stecken.
Als ich als junger Journalist Joanna Macy vor 35 Jahren begegnete, war ich tief deprimiert vom scheinbar folgenlosen Aufdecken ökologischer Verbrechen, und der Schläfrigkeit einer Gesellschaft, die ich mit meinen Texten doch aufrütteln wollte.
In den Gesprächen mit ihr begriff ich, dass kaum jemand noch mehr schlechte Nachrichten ertrug und sich die Menschheit in eine kollektive Verdrängung flüchtete – und damit dem Kollaps Raum gab, anstatt ihn zu verhindern.
In ihrer Begleitung stellte ich mich dem Schmerz über die Zerstörung des Lebensnetzes, tobte, heulte und schrie ihn raus – bis ich jenseits der Schattenreise die Liebe erreichte und hinter dem Nebel der Verdrängung das Mitgefühl für alle Wesen spüren konnte.
Es war damals, als würde die Erde selbst ihren Schmerz durch uns artikulieren. Und es entstand die Vision, mit meiner Arbeit „der Erde eine Stimme zu geben“: Den Finger auf all die offenen Wunden zu legen und zugleich von den Menschen zu erzählen, die, verbunden mit der verwundeten Erde, sich aufmachten, um handelnd Hoffnung zu vermitteln.
Von ihnen erzähle ich seit Jahrzehnten in jedem Artikel, jeder Radiosendung, jedem Buch: Inseln der Zukunft in einem Meer von Chaos. Geschichten der Hoffnung zu erzählen, die Mut machten. Narrative des Möglichen! Wir müssen, so hatte sie gesagt, jeder “Sterbebegleiter der alten zerstörerischen Welt und Hebammen für eine lebensfördernde Zukunft sein“.
Und beides war – das begriff ich – überall zu sehen! Zeitgleich!
Joanna Macy hat in ihrem Leben Aktivist:innen und Liebhaber:innen des Lebens ein großartiges Modell an die Hand gegeben, sich heute für Menschen in Jahrhunderten verantwortlich zu fühlen. Wenn es in im Jahr 2225 noch lebenswerte menschliche Zivilisationen gibt, sagte sie, dann werden deren Bewohner in Dankbarkeit auf uns Gegenwärtige zurückschauen, die in Zeiten der weltweiten Zerstörung des Lebensnetzes den ‚Großen Wandel‘ eingeleitet und umgesetzt hatten.
Und Joanna Macy machte überzeugend deutlich, dass dieser „Große Wandel“ längst im Gange ist und auf vielerlei Ebenen überall auf der Welt dynamisch wächst: Auf der ersten Ebene im Widerstand gegen Zerstörung, mit Sitzblockaden, Petitionen, Demos, Boykotten, zivilem Ungehorsam gegenüber einer Politik, die zum großen Aussterben, zum Treibhaus Erde und zu immer mehr Kriegen führt.
Enorm wichtiger, anstrengender Widerstand – aber nicht genug für den notwendigen Wandel!
Dazu brauche es auf der zweiten Ebene, jenes, was ebenso überall geschieht: funktionierende Modelle einer Welt von Morgen zu bauen, die skaliert werden können, wenn die Titanic der globalisierten Wachstumsgesellschaft sinkt.
Tausende von kleinen Rettungsbooten: funktionierende regionale Gemeinschaften, innovative Öko-Dörfer, nachhaltige Energiequellen, sozial gerechte Unternehmen, gewaltfreie Kommunikation, Kooperation statt Konkurrenz, Frieden durch Versöhnung, kulturelle Diversität und Vielfalt.
Aber auch ganz klein: Waldkindergärten, alternative Schulen, Bio-Läden, Öko-Projekte, Nachbarschaftshilfen, funktionierendes Recycling, Zero Waste, alternative Währungen – und, und, und. Immer mehr davon: Zukunft JETZT! Unverzichtbar, so Joanna Macy, aber auch noch nicht genug.
Was es drittens bräuchte, um den „Großen Wandel“, The Great Turning zu schaffen, sei ein Wandel im Wahrnehmen und Denken auf allen Ebenen.
Und auch der passiere überall – in den Millionenstädten und auf dem Land, in allen Generationen, quer durch alle Schichten in unzähligen Köpfen und Herzen: Die Einsicht in die Verbundenheit, das Wachsen des Mitgefühls, eine neue Ethik. Eine neue Wissenschaft der Verwobenheit alles Lebens.
Eine Wiederentdeckung indigener Weisheit. Eine individuelle therapeutische Aufarbeitung alter Traumata. Die Entfaltung menschlicher Potenziale.
Das Erdenken neuer Narrative, sinnvoller Schöpfungsgeschichten, ökologischer Weltbilder. Erdverbundener Spiritualität. Auf dieser dritten Ebene, so lockte Joanna Macy, wird der „Große Wandel“ schließlich umsetzbar. Im persönlichen Wandel in unzähligen Herzen!
Vielleicht erst nach globalen Phasen der Zerstörung, des Chaos und der Not.
Doch sie malte, geschult von der Erforschung der Systemtheorie, das Bild von der „positiven Desintegration“, dem „heiligen Zerfall“, des „kreativen Ungleichgewichts“ – wo aus jedem Chaos neue höhere Ordnung entsteht. Der uralten Kraft des sich entfaltenden Lebens traute sie viel mehr Kraft zu als den Trumps und Putins dieser Welt.
Und sie machte Mut! Immer wieder Mut in der Verzweiflung.
Es war ein verrücktes, volles, paradoxes und langes Leben voller Krisen und kreativen Wendungen, eine „chaotische Patchworkdecke“, wie sie selbst sagte: 1926 geboren, zutiefst christlich erzogen, Studium der Theologie – dann tiefe Zweifel. Ein Studium der politischen Wissenschaften in Paris und Arbeit für US-Außenministerium mit den Diplomaten junger afrikanischer Nationen – Zweifel auch an diesem Weg.
Sie begegnet und begleitet den alten Albert Schweizer und seinem späten Motto vom „Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“! Engagiert sich gegen Atomtests, Krieg in Vietnam. Geht nach Indien, lernt Buddhismus von tibetischen Flüchtlingen, nach Sri Lanka, lernt Mut von lokalen Aktivisten. Lebt in Deutschland, Frankreich, sonstwo in der Welt. Studiert spät Systemtheorie, promoviert, lehrt an Universitäten.
Joanna Macy entwickelt mit anderen den Ansatz der „Deep Ecology“ und tourt als Mutmacherin fast um die ganze Welt, selbst nach Tschernobyl in verstrahlte Gebiete der Sowjetunion. Weint mit den Menschen, tanzt mit ihnen, erklärt die Welt neu und schickt sie los, „weil Hoffnung im Handeln entsteht“.
Und ganz am Ende liegt sie lächelnd im heimischen Bett in Berkeley, Kalifornien – fast hundertjährig, mit dem faltigen Gesicht einer alten Schildkröte, die das Leben kennt und den Tod annimmt und dann friedlich geht.
Eine große Seele, ein Bodhisattva der Erde, eine Liebhaberin des lebenden Planeten – „Word as Lover, World as Self“ heißt eins ihrer siebzehn Bücher.
Die Welt ist ein Stück leerer nach ihrem Abschied. Die Herzen voller. Und man wird sie erinnern. Vielleicht noch Jahrhunderte, nachdem der „Große Wandel“ gelungen ist. Dort, wo sie jetzt vielleicht ist, werden die Wesen der Zukunft – so denke ich in Dankbarkeit – sie applaudierend willkommen geheißen haben.
Die 94-jährige Joanna Macy war eine der großen Weisen unserer Zeit. Nach ihrem Studium der Politischen Wissenschaften kam sie früh mit dem Buddhismus in Kontakt. Gemeinsam mit dem Dalai Lama und Thich Nhat Hanh galt sie als Begründerin des modernen Engagierten Buddhismus. Als Pazifistin, Ökologin und Menschenrechtlerin engagierte sie sich in der Bürgerrechtsbewegung. Sie entwickelte die Philosophie der „Tiefenökologie“ und ihren speziellen Ansatz der „Arbeit, die wieder verbindet“ (Work that Reconnects), eine ganzheitliche Methode zur Veränderung des Bewusstseins und des Weltbilds.
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Foto © Adam Loften



