Zwischen Licht und Leere: Ein poetischer Text über Vergänglichkeit, Stille und das Fallen ins Sein – von Henry Vorpagel.
Der Tag bricht an. Der Tag bricht ab.
Dazwischen: eine Bewegung. Vielleicht Leben. Vielleicht nur ein Hauch davon. Es geschieht allerhand, aber es bleibt nichts, das bleibt. Das Leben wirkt nicht wie ein Strom, sondern wie ein Gewicht. Es drückt. Es legt sich auf die Schultern, auf die Brust, auf die Stille im Kopf. Und wenn man glaubt, nichts geht mehr – geht es weiter. Nur nicht leichter. Immer noch eine Schicht, noch eine Falte, noch ein Schatten.
Herbst, die Bäume lassen los. Die Blätter fallen in alle Richtungen, und keiner weiß, ob sie je wieder den Himmel sehen. Man sagt, wenn man fällt, geschieht alles blitzschnell. Aber stimmt das? Es gibt kein blitzschnell. Es gibt nur das Fallen. Da ist der Fallende. Da ist das Fallen. Und da ist das Von-dort-nach-dort, das keinen Ort hat. Diese Dinge unterscheiden sich – und sind doch nicht zu trennen. Im Fallen selbst: kein Anfang, kein Ende, kein Ich, kein Wer. Keine Richtung. Kein Halt. Wann ist es vollbracht?
Manchmal gibt es Licht. Zuletzt war Vollmond. Die ganze Welt leuchtete – Busch, Baum, Weg, alles war da. Sichtbar. Greifbar. Fast wirklich. Doch nun: Neumond. Und alles verschwindet. Die Welt ist nicht weg – nur dunkel. Das Sichtbare ist nicht das Wahre, nur das Erhellte. Es war nie das Licht, das das Wesen der Dinge ausmacht – sondern das, was bleibt, wenn es erlischt.
Und dann sind da diese Begriffe, die sich selbst leugnen: Nicht-Selbst. Nicht-Ich. Nicht-Denken. Sie schweben wie Blasen durch die Sprache. Sie tragen keinen Inhalt, sondern eine Ahnung. Sie machen nur Sinn, wenn man ihnen glaubt. Wenn man die Welt akzeptiert, die sie voraussetzen. Doch wer ihnen wirklich folgt, gelangt an einen Punkt, an dem nichts mehr erklärt wird. Nur noch ein Prinzip steht da – stumm, endgültig, leer. Und dahinter? Nichts mehr.
Aber vielleicht ist gerade darin eine Tür verborgen. Denn wo alles Denken endet, beginnt eine andere Art des Wissens. Im Seelengrund – dort, wo das Herz nicht spricht, aber weiß. Dort begegnen sich die Wesen nicht durch Worte, nicht durch Rollen, nicht durch Namen. Sie begegnen sich durch das, was sie sind.
Das Herz gibt sich dem Herzen.
Der Seelengrund dem Seelengrund.
Die Schönheit der Schönheit.
Die Wesen einander.
Nicht weil sie müssen. Sondern weil sie sind.
Vielleicht nennen wir es Liebe.
Nicht die Liebe der Lieder, der Briefe, der Sehnsucht.
Sondern jene stille, grundlose, unausweichliche Liebe,
die sich zeigt, wenn alles andere schweigt.
Der Tag bricht an. Der Tag bricht ab.
Und dazwischen:
gekommen – vergangen.
gefallen – getragen.
Leere – Licht.
Bilder © Unsplash.com



