Im historischen Vergleich zeigt sich seit dem II. Weltkrieg eine stetige und sehr massive Zunahme von Erkrankungen mit mehr oder weniger starken psychosomatischen Komponenten. Dieser Anstieg gibt der Fachwelt ein bislang ungelöstes Rätsel auf: Woher kommt er?
Ist es die anonyme, leistungsorientierte, kalte und feindselige Gesellschaft? Ist es der steigende Arbeitsdruck, ausgelöst durch Produktivitätswahn? Ist es die Tatsache, dass die Menschen immer verwöhnter werden und heute über Wehwehchen klagen, die die Trümmerfrauen und Kriegsheimkehrer der Nachkriegszeit nicht einmal bemerkt hätten? Ist es die steigende diagnostische Sensitivität, mit der psychosomatische Erkrankungen erst heute als solche erkannt werden? Oder ist es gar eine Bande von geldgierigen Psychotherapeuten?
Wahrscheinlich können wir keinen der genannten Gründe ganz ausschließen und es wird wohl noch ein paar weitere geben. Zu den prominenteren – weil modischen – Vertretern dieser modernen psychischen Belastungen mit ‚Krankheitswert' – wie es unter MedizinerInnen so schön zynisch heißt – gehört das Ausgebranntsein: das Burn-out. Burn-out ist kürzer und außerdem englisch, daher wirkt es überzeugender. Im Wesentlichen besteht Burn-out im ‚Nichts-geht-mehr'-Gefühl. Routinetätigkeiten werden für gewöhnlich gerade noch zusammengebracht. Aber jede aktive und kreative Problemlösung versagt. Das innere Kind will nicht einmal mehr spielen – und lachen schon gar nicht. Burn-out-PatientInnen fühlen sich wie Maschinen, die nur noch funktionieren: Das heißt, sie fühlen sich überhaupt nicht. In dem Protokoll eines Interviews, das Claudia Simscha, eine Soziologin, die an dem Thema arbeitet, mit einer Burn-out-Patientin geführt hat, ist zu lesen: „irgendwann stumpft man so ab – man fühlt sich nicht mehr (...) keine Freude, keinen Schmerz (...) ich hab keine Emotionen mehr gefühlt – und ich wollte aber wieder was fühlen (...) das ist so eine Verzweiflung – so ein inneres Explodieren, aber ohne irgendeine Emotion zu haben (...) ganz komisch das zu erklären ... man kommt nicht aus ... irgendwie so eine (...) Hilflosigkeit."
Dieser Text, ebenso wie andere Berichte von Burn-out-PatientInnen, klingt allerdings so gar nicht nach Koketterie und Modeerkrankung, sondern eher nach wirklichem Leid und Bedrohung. Wie aber kommt es dazu?
Das Krankheitsbild, das wahrscheinlich noch die größte Ähnlichkeit mit Burn-out hat, ist die Depression. Bei ihr wird zwischen endogener und exogener Depression unterschieden. Die endogene Depression wird auf körpereigene Ursachen zurückgeführt, die exogene Depression auf umweltbedingte Faktoren. Depression ist mittlerweile ziemlich gut erforscht, Burn-out noch sehr viel weniger. Bisherige Ergebnisse deuten aber darauf hin, dass endogene Faktoren beim Burn-out sehr viel schwieriger zu finden sein dürften als bei der Depression. Es handelt sich beim Burn-out wahrscheinlich um eine Störung, die ihren Ursprung vorwiegend in der Arbeitswelt, in den Arbeitsbeziehungen, seltener auch in den sogenannten ‚privaten’ Beziehungen haben dürfte. Burn-out ist möglicherweise so etwas wie eine ‚Beziehungserkrankung’. Eine wichtige Rolle spielt die Arbeitsüberforderung. Aber wie wir auch schon aus der Stressforschung wissen: Nicht die bloße Menge der Arbeit ist entscheidend, sondern wie sie organisiert oder auch wie sie nicht oder schlecht organisiert ist. Bestimmte Formen dysfunktionaler Arbeitsorganisation bringen die ihnen Ausgelieferten in Situationen, die durch lange anhaltende Gefühle von Ausweglosigkeit gekennzeichnet sind. Das ‚innere Explodieren, aber ohne irgendeine Emotion’, von dem unsere Interviewpartnerin in der obigen Textstelle berichtet, deutet auf ein Erlebnis von hilfloser Wut hin, die sich dann in Apathie verwandelt, wenn sie nicht dazu eingesetzt werden kann, die Organisation der eigenen Arbeit so umzugestalten, dass ein verloren gegangenes Gefühl der Effizienz wiedergewonnen werden kann. Eine einigermaßen umfassende und systematische Beschreibung der organisatorischen Elemente von Arbeit, die bevorzugt zu Burn-out führen, steht bis dato noch aus. Vielleicht wird Frau Simscha sie in absehbarer Zeit liefern. Zumindest vier Elemente zeichnen sich aber derzeit schon ab:
Das Sisyphus-Erlebnis.
Ausgangslage: Wie sehr Sisyphus sich auch immer plagt, das Gefühl, etwas erledigt zu haben, kann sich bei ihm nicht einstellen, denn der Stein, den er den Berg hinaufrollt, rollt immer wieder von selber den Berg hinunter. Sein übermächtiger und allgegenwärtiger Gegner ist die Schwerkraft – und gegen die kommt nicht einmal der König von Korinth an. Endergebnis: Seine Arbeit kann niemals Teil seiner Identität werden. Er wird innerlich leer, er kann sich selbst nicht fühlen, weil er durch seine Arbeit nicht erreichen kann, dass andere ihn fühlen, weil das Ergebnis seiner Arbeit niemals zur Basis der Arbeit anderer werden kann. Er fällt so aus dem sozialen Netz heraus. Sogar als König.
Double Bind.
Das Endergebnis gleicht dem im Sisyphus-Syndrom. Allerdings ist die Ausgangslage eine andere: Zwei oder mehrere widersprüchliche Anforderungen müssen erledigt werden, jede der beiden möglichen Erledigungsarten geht auf Kosten der jeweils anderen. Paul Watzlawick hat zur Illustration dieses Situationstyps die Anekdote von der Mutter gewählt, die ihrem Sohn zwei Krawatten schenkt. Pflichtbewusst trägt dieser beim nächsten Besuch eine der beiden, was seine Mutter zu dem enttäuschten Kommentar veranlasst: „Und die andere gefällt dir nicht?“
Anomie.
Man könnte Anomie auch als eine generalisierte Situation des Double Bind betrachten. Es gibt nicht zwei widersprüchliche Anforderungen, sondern das gesamte System von Anforderungen ist in sich widersprüchlich und/oder unklar. Endergebnis: siehe Sisyphus.
Personalisierung.
Der Personalchef klopft Sisyphus freundlich auf die Schulter und muntert ihn auf: „Du wirst das schon schaffen!“ Unser Sisyphus ist sein Leben lang darauf trainiert worden, in ihn gesetzte Erwartungen nicht zu enttäuschen. Er verstärkt deshalb mit jedem weiteren Schulterklopfen seine Anstrengungen und übernimmt noch ein Stück Verantwortung für sein programmiertes Versagen: Er versucht sein ganzes Berufsleben lang, ein Problem zu lösen, das in Wirklichkeit nicht das seine und deshalb auch nicht durch ihn lösbar ist. Endergebnis: siehe oben. Irgendwann bricht er zusammen. Seine Wut über das Versagen kann sich aber gegen nichts und niemanden richten, denn die Quelle seines Misserfolges scheint in einem unabänderlichen Gesetz zu liegen, das er nicht beeinflussen kann. In diesem Punkt kann die Organisation eines Betriebes für einzelne MitarbeiterInnen durchaus Schwerkraftqualitäten annehmen. Da bleibt dann nur noch das innere Explodieren – aber ohne Emotion. Denn Emotion wäre innere Bewegung und die, das hat man erkannt, führt ja nur wieder zum Misserfolg.
Fassen wir zusammen: Burn-out ist eine Erkrankung, die in ihren Erscheinungsformen eine gewisse Ähnlichkeit mit der Depression hat, aber in ihren Entstehungsformen doch etwas ganz anderes ist. Wahrscheinlich spielt beim Burn-out die Arbeitsüberlastung eine besonders große Rolle. Und das ist das Wichtige: Die Überlastung allein scheint es nicht zu sein, sondern, das hat Frau Simscha in ihren Untersuchungen recht deutlich gezeigt, die Koppelung von Überlastung und Entfremdung: das Gefühl, mit der eigenen Kompetenz gegen ein Anforderungsprofil antreten zu müssen, das man sich so nicht ausgesucht hat und auch niemals ausgesucht hätte. LehrerInnen, die sich ihren SchülerInnen nicht ausreichend widmen dürfen, weil sie sich mit Verwaltungsarbeit herumschlagen müssen, Bankangestellte, die keine Zeit mehr für ihre Kunden haben, oder Pflegepersonal im Krankenhaus, das für die PatientInnen da ist und sich stattdessen mit Organisationsfragen quälen muss: Je rascher sich die Arbeitswelt verändert – und die Beschleunigung der Veränderungsprozesse ist unverkennbar –, desto wahrscheinlicher wird auch die Veränderung von Anforderungsprofilen und damit das Sisyphus-Erlebnis werden.
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