"Es war, als wäre in dem Moment in mir ein Gummi gerissen – physisch spürbar. Dann bin ich sogar noch mit dem Auto nach Hause gefahren, habe mich ins Bett gelegt und bin tagelang nicht mehr aufgestanden. Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen."
Christiane erzählt von dem Abend vor fünf Jahren, als sie mit ihrem Liebhaber im Restaurant saß.
Er hatte ihr vorgeworfen, dass sie etwas mit ihrem Sohn falsch mache. Dieser Satz war der letzte Tropfen in ein Fass, das sich seit Jahren in ihr gefüllt hatte. Mit dem Vorwurf hatte ihr Gegenüber das Ganze zum Überlaufen gebracht: totaler Zusammenbruch. Der Arzt attestierte ein Burn-out-Syndrom und markierte damit den Höhepunkt einer Entwicklung, die schon zwölf Jahre zuvor begonnen hatte, langsam und unbemerkt. „Burn-out ist ein schleichender Prozess über Monate oder Jahre", erklärt Prof. Dr. Wolfgang Lalouschek. Der Experte für Burn-out-Prävention und -Behandlung hat Christiane auf ihrem Weg zurück in ein gesundes Leben begleitet. Er beforscht ein Phänomen, das in den letzten Jahren in aller Munde ist: Burn-out – Menschen, die in ihrem Alltag ausbrennen. Betroffene beschreiben, dass sie erschöpft sind, ausgelaugt und sich über nichts mehr freuen können. Ihre Leistung nimmt ab, auch wenn sie sich noch so sehr anstrengen. Sie rutschen in eine negative Einstellung gegenüber anderen, werden zynisch und kalt. Sie leiden unter Schlafstörungen oder sexueller Unlust. Kognitiv können sich Betroffene weniger merken und verlieren ihre Kreativität. Innere Unruhe, Gereiztheit oder Aggressivität belasten auf der emotionalen Ebene. Die Menschen ziehen sich zunehmend zurück, viele rutschen in eine Sucht.
Christiane beschreibt dieses Alleinsein. „Ich war für andere schwer aushaltbar. Oberflächlich hat man mir nichts angemerkt: Mir geht's eh gut! Das schwarze Loch in mir nach der Scheidung hab ich vor allen verborgen. Ich hab mich selbst nicht mehr gespürt, habe die Leute vor den Kopf gestoßen. Wie eine Maschine dachte ich, dass ich einfach funktionieren muss und das alles schaffen – es gab keine Alternative." Die selbstständige Beraterin springt noch weiter zurück in der Zeit und erzählt vom Anfang ihrer Ehe, als der Prozess begann, der Jahre später im totalen Kollaps mündete. Die junge Mutter war viel beschäftigt, als Inhaberin einer Werbeagentur und parallel als Geschäftsführerin eines Familienunternehmens, während sie das Haus umbaute und eine NLP-Ausbildung durchlief. Als ihr Sohn zehn Monate alt war, trat sie auf die Bremse. Es war alles zu viel. Sie gab die Agentur an ihren Mann ab und verließ das Familienunternehmen, kümmerte sich nur noch um das Kind und begann erste Schritte als Trainerin. Bis sie im Supermarkt an der Kasse stand und keine Geldkarte mehr funktionierte. Ein Anruf bei der Bank und der Schock: Alle Konten der Familie waren maximal überzogen. Ihr Mann hatte nicht gesagt, dass er in Konkurs gegangen war. „Ich fühlte mich total im Stich gelassen und wollte es nicht wahrhaben, dass unsere Ehe da eigentlich schon kaputt war." Stattdessen krempelte sie die Ärmel hoch und übernahm die volle Verantwortung, ihre Familie zu versorgen. Sie schrieb Businesspläne und verhandelte mit den Banken. „Ich hab zu arbeiten angefangen wie eine Blöde – nach dem Motto: Ich bin eine Kämpferin, ich krieg das schon hin." Nach sechs Jahren Volldampf im Job und vergeblicher Paartherapie gab sie die Beziehung auf und trennte sich. Doch statt der erwarteten Erleichterung kam ein Loch. „Mein Lebenskonzept war den Bach runter. Alleinerzieherin – als Scheidungskind wollte ich das selbst nie werden. Meinem Sohn ging es elend, das hat mich auch gequält."
Die nächsten Jahre habe sie durchgehalten. „Ich war völlig überfordert, aber in meiner Wahrnehmungsfunktion total eingeschränkt, fühlte mich für alles verantwortlich und wollte von niemandem Hilfe erbitten. Geweint habe ich heimlich, wenn ich allein war." Dann die Affäre mit einem verheirateten Mann. „Hyperleidenschaftlich, dabei ging es mir eigentlich schlecht. Aber immer die Decke drüber, als ob alles happy-peppi sei." Bis zu dem Moment im Restaurant, als der Lover irgendeinen Satz über ihre Erziehung sagt und in Christiane ein Gummi reißt. Die Zahl solcher Zusammenbrüche nimmt in Europa stetig zu. Die aktuellste Studie dazu kommt aus Holland, wo sieben bis acht Prozent der Berufstätigen vom Burn-out-Syndrom betroffen sind. Christianes Arzt sieht dafür zwei Gründe: die stärkere Aufmerksamkeit, die das Thema Burn-out genießt und die gesellschaftliche Entwicklung. „Wir verlieren zunehmend unsere Anker im Leben, sei es Religion, Tradition oder Spiritualität." Dazu kommt, dass die Ruhezeiten des Wochenendes durch ein anderes Arbeitsverhalten für viele nicht mehr gelten und dass wir dank Smartphones ständig online und erreichbar sind. „Veränderte Arbeitsbedingungen sorgen dafür, dass Angestellte keine Arbeitsplatzsicherheit mehr genießen. Organisationen, die Börsenkursen und Shareholder-Interessen unterworfen sind, verfolgen kurzfristige Strategien und kündigen damit die Solidaritätsgemeinschaft mit den Mitarbeitern." Burn-out gilt oft als Berufskrankheit. Zu einer Überlastung mit 50 bis 80 Arbeitsstunden pro Woche über Jahre hinweg kommt die Belastung durch Unfairness im Job, mangelnde Anerkennung, schlechte Zusammenarbeit oder Wertekonflikte. Burn-out habe die Ursache aber nicht nur im beruflichen Alltag. „Bei manchen ist die Hauptursache im privaten Bereich, wo Angehörige über Jahre gepflegt werden, massive Schulden belasten oder Kinder und Beruf für Alleinerziehende kaum zu vereinbaren sind", so Wolfgang Lalouschek.
Selbstcheck: Bin ich Burn-out gefährdet?
Sie lesen ein Buch und fragen sich nach der ersten Seite „Was habe ich gerade gelesen?", weil Sie unterbewusst mit ganz anderen Dingen beschäftigt waren.
Sie schlafen schlecht, sind ständig müde.
Sie stehen nicht gern auf.
Sie hören von Ihrem Partner: „Dich interessiert nur noch die Arbeit!"
Freunde beschweren sich: „Man sieht dich gar nicht mehr!"
Wenn Sie sich fragen, wie Sie sich vor zehn Jahren gefühlt haben, merken Sie, dass es Ihnen damals viel besser ging als heute.
Wenn Sie die meisten dieser Fragen mit Ja beantwortet haben, suchen Sie sich einen guten Gesprächspartner, am besten einen Außenstehenden (Freunde sind immer schnell mit wohlmeinenden Ratschlägen zur Hand). Es könnte ein Coach sein mit lösungsorientiertem Ansatz, der Ihnen hilft, eine Standortbestimmung vorzunehmen, von außen auf Ihr Leben zu schauen und zu reflektieren, wie Sie gerade unterwegs sind. Ein Phänomen der Moderne? Burn-out gab es schon immer, auch wenn es früher nicht so hieß, sagt der Arzt. „Der Prophet Elija im Alten Testament hatte ein Burn-out. Es ist dort schön beschrieben, wie er wieder zurückfindet. Die Indios in Südamerika sprechen von Seelenverlust, wenn jemand zu starker seelischer Belastung ausgesetzt ist und die Seele den Körper verlässt. Das entspricht den Symptomen des Burn-out. Und in unserer psychiatrischen Geschichte gab es den Begriff der Neurasthenie, wo ähnliche Symptome beschrieben werden." Wolfgang Lalouschek betreut die Patienten mit seinem Expertenteam ‚The Tree'. Im 13. Wiener Gemeindebezirk entwickeln die Ärzte, Psychologen, Coaches, Meditations- und Entspannungstrainer gemeinsam den passenden Behandlungsweg für jeden Patienten. Sind es Medikamente, um schlafen zu können, Psychotherapie, lösungsorientiertes Coaching oder Entspannung, die gebraucht werden? Die Behandlung ist ambulant, um den Alltag und das echte Leben des Patienten zu erreichen. „Viele warten ein paar Monate auf einen Klinikplatz und glauben, in den sechs Wochen dort passiert ein Wunder und danach ist alles besser", sagt Lalouschek. Das kann ein Grund sein, warum ein Drittel der Betroffenen nach der Behandlung ein zweites Burn-out erleidet. Etwa zwei Drittel können sich über eine anhaltende Verbesserung ihrer Lebensqualität freuen. Das gelingt, wenn eigene Glaubens- und Antreibermuster in der Behandlung verändert wurden. „Mit dem oberflächlichen Doping-Prozess ‚Iss Antidepressiva, damit du wieder fröhlich wirst!' ist langfristig nichts zu erreichen." Die Mitarbeiter von ‚The Tree' begleiten die Patienten zwischen drei Monaten und drei Jahren, helfen ihnen, wieder Sinn im Leben zu finden, das Umfeld zu stärken, oder sprechen mit den Arbeitgebern. „Wir versuchen, uns möglichst rasch wieder überflüssig zu machen", sagt Lalouschek, der auch Christiane nach ihrem Zusammenbruch betreut hat.
Die Mami-Maschine funktionierte nicht mehr, sondern lag tagelang weinend im Bett und konnte nicht aufstehen. Ärzte, Familie und Freunde waren plötzlich da und kümmerten sich um Mutter und Sohn. In den nächsten Monaten waren Arbeit oder ein normales Leben für die Selbstständige nicht möglich. Und dann traf Christiane eine Entscheidung: „Ich hatte keine Aufträge, fast kein Geld mehr, war noch nicht gesund und ich dachte: Jetzt scheiß ich drauf! Ich habe unser letztes Geld genommen, meinen Sohn eingepackt und bin mit ihm für sechs Wochen im Wohnmobil durch die USA gefahren. Es war der schönste Urlaub meines Lebens! Ich habe über nichts nachgedacht, unser letztes Geld ausgegeben und nur genossen." Die Überraschung nach ihrer Rückkehr: Es ging ihr hervorragend, obwohl sie pleite war und keine Ahnung hatte, wie es weitergeht. Plötzlich ergab sich alles wie von selbst, Aufträge, Kooperationen, Einladungen. „Heute lebe ich in dieser Vogelfreiheit. Ich will keine Reserven mehr, kein Eigentum, keine Verhaftung an Dinge, denen ich nachlaufe. Ich mache jedes Jahr zehn Wochen Urlaub und spüre immer wieder hin, welche Aufträge mir guttun und welche nicht. Die Ausrede ‚Du brauchst das Geld' gilt nicht mehr für mich." Sparsamkeit ist für Wolfgang Lalouschek ein Zauberwort aus seiner Erfahrung mit Burn-out-Prävention. Er rät zu Bescheidenheit. „Sich nicht übernehmen mit Schulden für Dinge, die enorm viel Geld und Energie kosten." Wer sich vor einem Burn-out bewahren möchte, dem empfiehlt der Experte regelmäßige Selbstreflexionsschleifen, zum Beispiel jedes Jahr eine Woche allein wandern und mit Abstand auf den eigenen Alltag schauen – passt das so für mich?
Der 28-jährige Alex hat auf diese Art die Kurve gekriegt, bevor der Kollaps kam. „Ich stand in einem Computerladen und habe den Verkäufer zur Sau gemacht, weil er sich nicht auskannte mit der Festplatte, die ich kaufen wollte. Ich habe rumgeschrien, wollte den Geschäftsführer sprechen. Und plötzlich stand neben mir der gute Alex und dachte: Das bin ich doch gar nicht." Auch Alex' Geschichte der Überlastung ist eine schleichende. Als 23-Jähriger hatte er seinen Job in einem Musikgroßhandel begonnen. Ein älterer Techniker nahm ihn unter die Fittiche wie ein Mentor. „Das war eine tolle Zeit, ich habe viel von ihm gelernt und wir haben oft nach der Arbeit zusammengesessen und philosophiert." Dann kündigte der Kollege und Alex bekam mehr Verantwortung und Aufgaben. Das Team wurde kleiner und die Arbeit immer mehr. „Ich bin Perfektionist, ich will, dass es für alle passt, das hat mich kaputtgemacht." Alex nahm die Arbeit mit nach Hause und arbeitete weiter bis nach Mitternacht. „Ich habe alles angenommen, anstatt zu sagen, das geht einfach nicht, oder das dauert halt drei Wochen." Vom Chef kam kein Lob, kein Dank, keine Wertschätzung für Alex' Einsatz, der komplett überarbeitet immer noch alles annahm und versuchte, es bestmöglich zu erledigen. Der 28-Jährige erlebte, wie der Zyniker und der Choleriker in ihm wach wurden. Im Straßenverkehr rastete er aus, wenn jemand zu langsam fuhr. „Ich hab fast einen Herz-Zick-Zack gekriegt und rumgebrüllt: ‚Ihr Idioten! Scheißautofahrer!'" Seine Freundin verließ ihn und plötzlich stand er im Hi-Fi-Markt und schrie den Geschäftsführer an, dass der Verkäufer ein Vollidiot sei.
Da zog Alex die Notbremse, kündigte den Job und verließ die Betriebswohnung. Er suchte sich eine neue Wohnung und nahm einen Kredit auf. „Das war mir egal – ich war es mir wert." Im neuen Zuhause begann er wieder Musik zu machen, um den alten Alex wiederzufinden. Heute sitzt er mit seiner Gitarre in der Berghütte und spielt abends inmitten der Gäste. Sein neuer Job ist auf 2.000 Metern, auf einem österreichischen Berggipfel. Im fröhlichen Team des Habsburghauses betreut er die Gäste und kümmert sich um alles. „Das ist super! Zeit spielt hier oben keine Rolle. Wir sind weit weg von der Welt, von Geldwesen, Banken, Bürokratien. Ich teile mir meine Arbeit frei ein. Wenn ich drei Stunden brauche, um die Klos sauber zu machen, dann brauche ich halt so lange." Am meisten genießt er den Kontakt mit den Gästen. „Ich freue mich riesig über ihr Lob, wenn es ihnen hier gefällt." Wie es weitergeht, weiß er noch nicht. „Ich mache mir nicht mehr so viele Gedanken über die Zukunft. Ich lebe jetzt." Wie Alex geht es vielen Angestellten, die in der Überarbeitung innerlich ausbrennen. Lalouscheks Expertenteam ‚The Tree' unterstützt Firmen dabei, dem Burn-out bei Mitarbeitern vorzubeugen. Die ideale Firma, in der Burn-out kaum auftauchen würde, beschreibt der Arzt so: „Es gibt eine klare Beschreibung von Zielen, Rollen und Prozessen. Es ist allen klar: Was ist der Zweck unserer Firma und warum sind wir damit für die Welt wichtig? Das verdiente Geld dient der Erhaltung dieses Zwecks. Die Führungskräfte leben eine gesundheitserhaltende Vorbildrolle. Sie achten auf ihre eigenen Grenzen, machen auch mal Pause, können innerlich auf Distanz zu ihrer Arbeit gehen, führen ein Leben in Balance und sind achtsam mit sich selbst und mit ihren Mitarbeitern." Auf dieses Ziel hin arbeitet ‚The Tree' mit Firmenchefs, Führungskräften und Mitarbeitern, um die Organisation ‚gesund' zu machen und zu erhalten. Auch Christiane hat die Achtsamkeit gelernt, die Lalouschek den Führungskräften empfiehlt. Sie hat kontemplative Fotografie für sich entdeckt. Wann immer Zeit ist, geht sie mit ihrer Kamera auf Tour, ohne ein Ziel und ein Wollen, und lässt sich vom Moment und von ihrer Aufmerksamkeit leiten. Dabei entstehen beeindruckende Bilder mit ungewöhnlichen Blickwinkeln. „Ich liebe das! Da bin ich so ganz bei mir, entspannt im Jetzt."
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 85: „Burnout"
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