Priester, Armenhelfer und Bettelpfarrer – Pfarrer Wolfgang Pucher ist zur Ikone einer neuen, humanitäreren Kirche geworden. Das von ihm gegründete ‚VinziWerk' hat sich zu einem Imperium der Menschlichkeit entwickelt. Über seinen Dienst aus Nächstenliebe und seine Berührungspunkte mit dem Buddhismus.
Sie sind in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Als Schüler mussten Sie noch Essen stehlen, heute verwalten Sie Millionen. Wie kam es dazu?
Pfarrer Pucher: Vom Schulbuben zum Millionär ist es ein kurzer Weg, wenn man das Glück hat, die nötigen Gaben vom Schöpfer mitzubekommen. Begabungen sind von Mensch zu Mensch verschieden, manche entdecken, was in ihnen steckt, und andere nicht. Ich habe auch ein Talent von meiner Mutter geerbt, nämlich im Gespräch zu überzeugen. Mit diesem Talent schaffe ich es, Menschen etwas zu vermitteln, was sie sonst nicht verstehen würden. Es ist nicht die Frage, ob ich Millionär bin, oder nicht. Es ist mir gelungen, mit wenigen Voraussetzungen doch ein recht erfolgreiches System aufzubauen, was vielen Armen das Leben ein Stück erleichtert.
Wie hat Ihre Kindheit Sie beeinflusst?
Wir waren drei Kinder, ich habe im Krieg meinen Vater verloren. Meine Mutter musste großen Einfallsreichtum entwickeln, um uns durchzubringen, und das hat angesteckt. Wir wuchsen in einem kleinen Dorf auf, hatten keinen Strom, kein Wasser und kein WC. Wir haben nur gefroren im Winter, es war Armut pur. Die soziale Einstellung unserer Mutter hat auch auf uns Kinder abgefärbt. Ich sehe heute noch vor mir, als gegen Ende des Krieges Soldaten als abgebrannte Menschen wirklich armselig an einem heißen Tag an unserem Haus vorbeigezogen sind. Da stand meine Mutter den ganzen Tag an der Straße und hat jedem Soldaten einen Becher Wasser zu trinken gegeben. Wir Kinder haben es eher als lustig empfunden, aber es hat uns geprägt.
Wieso sind Sie Pfarrer geworden?
Diese Frage wird mir oft gestellt. Ich glaube, der Hauptgrund ist meine Mutter. Ich habe dies jedoch erst nach meiner Priesterweihe erkannt. Als ich geboren wurde, haben meine Eltern sich überlegt, was aus mir werden wird. Die Mutter meinte, Priester. Da hat die Geschichte ihren Lauf genommen. Der zweite Anstoß kam nach der Volksschule, als meine Mutter mir auf meine Idee, Wagner zu werden, den Beruf Pfarrer vorschlug. Ich bin in ein öffentliches Gymnasium gegangen. Dort habe ich auch zu einer Mitschülerin eine innige Liebe empfunden. Aus der Liebe ist nie etwas geworden. Ich war unheimlich traurig damals. Die Pubertät war eine sehr verwirrende Zeit. Ich wollte Priester werden, aber ich spürte die Liebe zu einem Mädchen, das passte nicht zusammen. Ich war einfach noch zu jung.
Hatten Sie je Zweifel, ob Priester die richtige Wahl war?
Ein Jahr vor meiner Priesterweihe nahm ich als Gast an der Primiz eines Kollegen teil. Ich erlebte, wie die Menschen diesen jungen Mann auf Händen emporhoben. Da dachte ich mir, das kann ich nicht. Ich war tief verzweifelt und fragte mich, ob ich wirklich Priester werden will. Es kam dann jedoch zu einem wegweisenden Erlebnis. An einem schönen Augustnachmittag habe ich ein Buch eines Münchner Dogmatikprofessors gelesen und ein an sich völlig harmloser Satz gab mir Antwort in meiner Not. Da stand: „Wenn Gott einen Menschen beruft, dann ist das nicht abhängig von dessen Fähigkeiten, Eigenschaften oder gar Charakter." So habe ich mich endgültig dazu entschieden, Priester zu werden.
Sie waren eine Zeit lang in Istanbul und haben dort mit Kindern gearbeitet. Was sagen Sie zur gegenwärtigen Islamdebatte?
Eine schwierige Geschichte, ich habe mich wirklich bemüht, den Islam gut kennenzulernen. Ich habe den Koran gelesen. Noch heute habe ich Kontakt zu einigen meiner ehemaligen muslimischen Schüler. Wir haben eine ganz herzliche Beziehung und gratulieren uns zu den Feiertagen. Was am Islam so schwierig ist, ist der immanente Anteil an Gewalt schon im Koran und in der ganzen Geschichte bis heute. Ein muslimischer Soziologe, der in Wien lebt, hat im ‚Standard' (Anmerkung der Redaktion: eine österreichische Tageszeitung) geschrieben, dass Muslime es schaffen müssen, sich von der immanenten Gewalt des Koran zu lösen und diesen als ein historisches Dokument zu betrachten. Muslime müssten sagen, dass Gewalt in ihrer Religion keinen Platz hat, dann würden sie in einer Gesellschaft mit Menschenrechten ankommen. Die Unterwürfigkeit nicht nur Gott gegenüber, sondern allgemein blind und kommentarlos sehe ich auch als ein Problem. Die Frauen haben sich den Männern zu unterwerfen. Viele Muslime gingen auch nicht auf Distanz, als ein junger Mann in Saudi-Arabien ausgepeitscht wurde. Das ist skandalös. Ihre Frage ist sehr schwer zu beantworten, hier ist eine Religion im Umbruch. Im Christentum haben wir im Mittelalter damit begonnen und wir haben lange gebraucht, bis wir uns von gewissen Dingen distanziert haben.
Wobei man sagen muss, dass die Stellung der Frau innerhalb des Klerus auch nicht unumstritten ist ...
Wir haben noch keine Priesterinnen, aber wenn ich mir meine Gemeinde anschaue, dann prägen die Frauen das Leben dort. Bei mir predigen auch Frauen. Es fehlt nur noch die Priesterweihe, aber das kann ich nicht entscheiden.
Kamen Sie schon mit dem Buddhismus in Berührung?
Ich habe mich vor drei Jahren mit dem Buddhismus beschäftigt. Ich habe viel gelesen, kenne mich jedoch nicht so gut aus. Ich war aber in Sarnath, wo Buddha seine erste Rede gehalten hat. Von dort habe ich mir ein Blatt vom Bodhi-Baum und eine buddhistische Gebetskette mitgenommen.
Buddhistische karitative Einrichtungen bestehen erst seit kurzem, im Christentum gibt es hingegen eine lange Tradition des Helfens.
Im Buddhismus und im Hinduismus gibt es ein mangelndes Interesse an der Not der Menschen. Ich schätze den Buddhismus unglaublich, trotzdem könnte ich aus diesem Grund nie Buddhist werden. Meine Berufung ist es, Armenpriester zu sein. Das erste göttliche Gebot ist, du sollst Gott lieben und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Sollte es abseits aller Religionen eine gemeinsame Ethik geben?
Es hat schon lange vor dem Christentum und wahrscheinlich auch vor dem Judentum ethische Prinzipien gegeben, die sich größtenteils mit den Zehn Geboten decken. Man darf in keiner Zivilisation, Kultur oder Religion einfach töten oder Sexualität willkürlich oder wild ausleben.
Was ist für Sie die größte Ungerechtigkeit auf der Welt?
Die größte Ungerechtigkeit, die es auf der Welt gibt, ist nicht von Menschen gemacht, sondern bereits in der Schöpfung enthalten. Wenn ich einmal vor meinem ewigen Richter stehe, dann werde ich ihm, nachdem er mir ordentlich den Kopf gewaschen hat, eine Frage stellen: Warum hast du bei der Schöpfung so eine große Ungerechtigkeit in der Verteilung der Gaben gemacht? Die meisten Menschen, die wir betreuen, werden arm geboren, leben arm, zeugen Kinder, die ebenso arm aufwachsen, und sterben arm. Dieser Kreislauf der Armut ist unausstehlich und die größte Ungerechtigkeit.
Warum wird Ihnen der liebe Gott den Kopf waschen?
Sind Sie froh, dass Sie über mich nicht zu viel wissen. Wer behauptet, er habe keine dunklen Seiten, der ist ein unverschämter Lügner. Man muss seine dunklen Seiten nicht immer auf dem Präsentierteller vor sich hertragen. Es gibt genug Leute, die einem diese ohnehin dauernd vorhalten. Ich bin ein sehr ungeduldiger Mensch. Ich habe die schlechte Angewohnheit, wenn arme Menschen um Hilfe kommen, mir nicht genau anzuhören, was sie sagen wollen. Ich will immer nur das Ende ihrer Geschichte hören. Dies ist eine schreckliche Untugend, diese Ungeduld. Ich bin auch sehr jähzornig. Ich kann einiges aushalten, wenn man mir etwas ins Gesicht schmeißt, aber ich halte es nicht aus, wenn jemand mit anderen Menschen schlecht umgeht. Ich habe bei einer großen Demonstration gegen das Bettelverbot in der Steiermark über das Mikrofon gegen den Bürgermeister gewettert. Ich hatte einen riesigen Zorn auf ihn, das war ein heiliger Zorn, ein gerechter Zorn. Ich habe auch unrechte Zornausbrüche, die ich manchmal nicht im Griff habe.
In Wien soll ein neues Vinzi-Dorf entstehen. Es gab jedoch großen Widerstand seitens der Nachbarn, warum?
Die haben nie verstanden, was unser Anliegen ist. Es geht um Barmherzigkeit. Der Fonds Soziales Wien mit seinem Geschäftsführer, Herrn Hacker, hat sich bis vor zwei Jahren geweigert, obdachlose ausländische Bürger zu unterstützen. Der Zugang zu einer Obdachloseneinrichtung war ihnen in Wien gesetzlich verwehrt. Ich habe nichts dagegen, dass dies ein Gesetz ist, aber vor dem Gesetz steht immer noch der Mensch. Wir haben vor fünf Jahren das Vinzi-Dorf gegründet, um genau diesen Menschen zu helfen. Was ist besser, einen Alkoholiker, der ein ausländischer Bürger ist, in so einer reichen Stadt unter einer Brücke verrecken zu lassen oder ihm aus Barmherzigkeit ein warmes Bett zu geben, obwohl er keinen gesetzlichen Anspruch hat? Das Vinzi-Dorf ist zu einer Zeit konzipiert worden, als noch in den Einrichtungen der Stadt Wien kein einziger Obdachloser Alkohol trinken durfte. Dies hatte zur Folge, dass viele auf diese Betreuung verzichteten. Ihnen war die Flasche näher als das Bett. Wir nehmen diese Leute in unseren Einrichtungen auf. Herr Hacker kann uns gerne alle diese Alkoholiker abnehmen und zeigen, wie er es besser macht.
Sind Alkoholiker besonders sensible Menschen, die an der Realität scheitern?
Das ist eine Frage, über die ich noch nie nachgedacht habe. Sensibilität kann eine Sache sein. Es gibt jedoch viele unterschiedliche Aspekte. Einige Menschen halten vieles aus, andere werden durch einen Schicksalsschlag völlig aus der Bahn geworfen. Es gibt viele Gründe, warum diese Menschen scheitern. Man kann oft nicht sagen, was zuerst gekommen ist, der Alkohol, der Verlust der familiären Geborgenheit oder der Verlust des Arbeitsplatzes. Es greift alles ineinander und irgendwann passiert es, dass alle drei zusammenfallen, und dann sacken diese Menschen in ein Loch ab, aus dem sie nie mehr herauskommen.
Sehen Sie sich auch als sehr sensiblen Menschen?
Ich bin auch ein sehr emotionaler und sensibler Mensch. Ich kann Menschen und auch Tiere nicht leiden sehen. Sensibilität hat ganz viele Aspekte. Ich bin mit 40 Jahren in eine Art Burn-out gefallen. Ich musste weg aus der Pfarre und habe drei Monate in Wien bei Freunden gelebt. Mir ist alles über den Kopf gewachsen. Ich habe mühsam wieder zurückgefunden. Heute bin ich stärker als vor diesem Burn-out.
Würden Sie das Burn-out als Glaubens- oder als Ich-Krise bezeichnen?
Ich bin heute gläubiger als vor meiner Krise. Die Krise war eine wertvolle Prüfung. Jeder Mensch macht im Glauben zwei große Krisen durch. Die erste ist die dunkle Nacht der Sinne und die zweite, die schlimmere, die dunkle Nacht des Geistes. Ob es damals schon die dunkle Nacht des Geistes war, es könnte sein. Ich bin in der Nacht im Pyjama in die Kirche gegangen, habe mich auf den Boden geworfen und gesagt: „Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann tue was." Deshalb kann ich auch Leute, die Gotteszweifel haben, sehr gut verstehen. Es war keine Ich-Krise, natürlich ist daraus eine Ich-Krise geworden, aber es war eigentlich eine Gottes-Krise, eine tiefe Glaubenskrise.
Warum haben Sie sich gerade für die Ärmsten der Armen entschieden?
Viele Menschen versuchen, sich vor Weihnachten in Güte und Nächstenliebe zu üben. Sie wenden sich an ‚Licht ins Dunkel' (= österreichische karitative Organisation) und helfen lieben armen Kindern. Unbeachtet bleiben die, die meiner Meinung nach unter die ‚hässliche Armut' fallen. Als ich das entdeckt habe, habe ich beschlossen, jenen zu helfen, denen keiner helfen will.
Welche Menschen betreuen Sie am häufigsten?
Die meisten, die ich betreue, sind Inländer, schwer kranke Alkoholiker und psychisch belastete Menschen.
Woher nehmen Sie die Kraft?
Diese Frage habe ich noch nie beantworten können. Immer wenn man auch nur in kleinen Schritten einen Menschen ein Stück von seiner Not befreit, ist es eine wunderbare Selbsterfahrung, ein wunderbares Geschenk.
Werden manche Menschen auch wieder gesund?
Gesundheit heißt auch, wenn im Vinzi-Dorf einer vom niedrigsten Niveau zwei Stufen höher steigt, sich wieder wäscht und wieder minimale Sozialkontakte pflegt. Sie werden im Vinzi-Dorf nie einen Menschen finden, der im Rausch umfällt, und keiner hilft ihm auf. Sie werden nie jemanden finden, der keine Zigaretten mehr hat, weil ein anderer ihm sofort eine gibt. Das sind doch auch Sozialisierungserfolge.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 92: „Reiseführer Meditation"
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