Was soll denn hier ein berühmter Spruch des Philosophen Kant? Ist doch die Weisheit von Immanuel ein ganzes Stück von der Weisheit Gotama Buddhas entfernt. Lesen Sie hier über die Gemeinsamkeiten!
In ‚Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?' (1784) schreibt Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung." In diesem Sinne war Buddha ein großer Aufklärer. Er setzte nicht Dogmen und Glaubenssätze in die Welt, sondern stellte seine Entdeckung, dass Erlösung vom Leiden eine realisierbare Option ist, als Arbeitshypothese dar, die man auf ihren Wahrheitsgehalt testen kann. Buddhas Lehre ist ehipassiko – „nach der Art des ‚komm und sieh selbst'".
Die Schritte beim experimentellen Test der Arbeitshypothese sind in einer Begriffsreihe zusammengefasst: den sieben bojjhaṅga, den ‚Gliedern der erlösenden Erkenntnis'. Ein Hypothesentest muss damit beginnen, dass man seine ganze Aufmerksamkeit dem Gegenstand der Beobachtung widmet (sati – Achtsamkeit). Dann muss man die Arbeitshypothese klar formulieren (dhamamvicaya – klares Erfassen der Lehre). Ein Langzeitexperiment wie die Erlösung vom Leiden braucht viel Ausdauer, viel Energie (viriya – Energie). Wenn man gleich zu Beginn frustriert ist, sind die Aussichten, dass man das Experiment zu Ende führt, gering. Man braucht also Begeisterung für die Sache (pīti – begeisterte Freude). Begeisterung kann aber dazu führen, dass wir die Beobachtung im Sinne unserer Erwartungen verzerren, wir müssen wieder zur besonnenen Ruhe kommen (pasaddhi – Ruhe), ganz gesammelt beobachten (samādhi – Sammlung) und ganz gelassen, ohne Ungeduld und Wunschdenken, das Ergebnis des Experiments abwarten (upekkhā – Gleichmut).
Da wir uns mit Achtsamkeit schon beim achtfachen Pfad beschäftigt haben, wenden wir uns dem zweiten Schritt zu, der klaren Formulierung der Arbeitshypothese Buddhas, dem klaren und kritischen Erfassen der Lehre. Dies bedeutet nicht, dass wir zu Hyperorthodoxlern werden und bei jeder Gelegenheit denken: „Buddha sagt". Nein, es bedeutet, dass wir kritisch fragen: Was hat das mit Erlösung vom Leiden zu tun? Vom Leiden, das wir tagtäglich erfahren, nicht von einem fantasierten Weltschmerz. Klares und kritisches Formulieren der Arbeitshypothese heißt also, dass wir klar unterscheiden zwischen dem Heiligen, das unser Gemüt erbauen und erfreuen mag, und dem Heil, der Beendigung des Leidens, das das Ziel und der Gegenstand der Lehre Buddhas ist. Wir müssen unterscheiden zwischen dem Brimborium und dem Exotischen und der Lehre. Sind in meinem persönlichen Fall Brimborium und Exotisches hilfreich zur Verwirklichung der Lehre oder lenken sie eher davon ab?
Klares und kritisches Erfassen der Lehre ist das Gegenteil von Guruismus. Wir akzeptieren nichts als Arbeitshypothese für unseren Versuch, Leiden zu überwinden, nur weil es ein ‚Ehrwürdiger' sagt, mag er mit noch so bombastischen Titeln und noch so wundervollen asiatischen Namen daherkommen. Wie oft erweist sich ein ‚Ehrwürdiger' als überhaupt nicht ehrwürdig. Wie oft erkennen wir bei genauerem Hinblicken, dass ein ‚Meister' ein Schwätzer ist, der über Dinge redet, von denen er persönlich keinerlei Ahnung hat. Vergeuden wir lieber unsere Zeit nicht damit, auf der Suche nach dem wahren Meister durch die Welt zu jagen. Haben wir Mut, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen. Buddha sah in seinen Mitmenschen keine blöden Schafe, die man mit dem Schäferstab als Aufseher (Episcopus, Bischof) zusammenhalten muss. Buddha sah in seinen Mitmenschen selbstverantwortliche Wesen, denen er Optionen, mögliche Lebensentwürfe, aufzeigte und dann sagte: „Entscheide dich selbst, welche Option du wählen willst." Leider hat man das in der Geschichte des Buddhismus viel zu selten realisiert. Dumme Schafe sind halt leicht zu scheren!
Wir müssen bei der Untersuchung der Worte Buddhas immer mit bedenken, dass auch Buddha ein Kind seiner Zeit war, dass auch er vieles gesagt hat, was er nicht besser wissen konnte, wir aber besser wissen; so wie in ein paar Jahren man gewiss bei vielem, was ich schreibe, sagen wird: „Es stimmt nicht, aber der Payer konnte es nicht besser wissen." Wir müssen als Buddhisten das tun, was protestantische Theologen in einer einmaligen ‚Wahrhaftigkeitstat' (Albert Schweitzer) im 19. Jahrhundert getan haben: Wir müssen die Lehre Buddhas entmythologisieren. Wir Buddhisten müssen uns noch sehr anstrengen, dass man uns in fünfzig Jahren als Vorbild für künftige Generationen hinstellen kann, wie es Albert Schweitzer bezüglich protestantischer Theologen des 19. Jahrhunderts konnte: „Mögen sie [spätere Generationen] den Willen zur Wahrhaftigkeit, der jene Generationen beseelte, miterleben und dadurch in der Erkenntnis gefestigt werden, dass unbeirrbare Wahrhaftigkeit zum Wesen echter Religiosität gehört."
Wenn ich so die Welt betrachte – und ich tue es Tag für Tag –, dann stelle ich an mir und anderen fest, dass wir heute zwar sehr oft den Mut haben, uns des eigenen Verstandes zu bedienen: Die Fortschritte in Wissenschaft und Technik sind unübersehbar; trotz der unzähligen Lichter, die uns ständig aufgehen, ist uns das eine wirklich entscheidende Licht meistens noch nicht aufgegangen: das Licht der Erkenntnis, wie wir uns selbst und anderen ständig Leiden schaffen und wie wir persönlich geduldig die Leidensproduktion vermindern oder gar beenden können. „Das Zeitalter ist aufgeklärt ... woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?" (Friedrich Schiller, 1795)
vielen Dank für Ihre sehr gute, aufklärerische Darstellung ; "Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen"
Genau so sollte es auf dem buddhistischen Pfad praktiziert werden.
Es würde weniger selbst verursachtes Leiden
für uns Menschen dabei heraus kommen.
Mit freundlichen, dogmen- und aberglaubens-
freien, buddhistischen Grüßen.