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Diskurs

Ein ‚gutes Leben‘, das sich auf Kosten anderer ereignet, ist grundsätzlich ungerecht. Gibt es in der Welt überhaupt ein gewisses Maß an Gerechtigkeit? 

 

„Ist das Leben gerecht?“, fragte Thomas Macho zum Jahresbeginn 2011 im ‚Standard‘ (österreichische Tageszeitung). Diese Frage ist bleibend aktuell. Macho wiederholte nur eine alte philosophische, genauer: religiöse Frage. Es ist die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach einer ausgleichenden Gerechtigkeit, und es ist vor allem die Frage nach dem Glück.

Gerechtigkeit kommt als Erfahrung nicht hauptsächlich von innen wie das Glück, auch wenn es äußere Ursachen haben mag.


Die Frage nach dem Glück offenbart indes, bedingt durch die deutsche Sprache, eine schillernde Unklarheit, deren Beseitigung zugleich Licht auf das sich hier stellende Problem wirft. Andere Sprachen sind diesbezüglich genauer und unterscheiden zwei Glücksbegriffe: lateinisch Fortuna und Beatitudo, englisch Luck und Happiness. Das Glück im Sinn von ‚Glück haben‘ kommt von außen, wird als Zufall oder Schicksal erlebt. Kein Naturwissenschaftler kann uns erklären, weshalb wir in Europa, in diesem oder jenem Körper, in diesem oder jenem Klima, in diesen oder jenen sozialen und politischen Verhältnissen geboren sind. Und kein Ökonom wird eine Gesetzmäßigkeit benennen können, mit der sich individueller Reichtum sicher vorhersagen lässt. Man kann diesem ‚Glück‘ im Sinn von Schicksal gelegentlich nachhelfen. Je mehr Macht und Informationen man hat, desto eher lässt sich ein äußerer Schicksalsschlag vermeiden. Es bleibt aber stets ein sehr großer ‚Rest‘ an reinem Glück (Zufall).

Die Reichen wurden immer reicher, die Ärmeren blieben bestenfalls auf einem niedrigen Niveau.


Ganz anders steht es um das Glück im Sinn von ‚glücklich sein‘. Es ist gewiss naiv, dieses Glücklichsein sich völlig unabhängig vom äußeren Schicksal, von fremden, nicht beeinflussbaren Umständen zu denken. Dennoch gibt es bei Menschen, die unter ähnlichen Umständen leben und ein vergleichbares Einkommen haben, große Unterschiede darin, wie sie ihr Leben empfinden. Das ist ein Gemeinplatz, der eine viel wichtigere Frage verdeckt: Kann jeder das Erleben seiner Situation positiv verändern? Es ist ein sehr altes Erfahrungswissen, dass man das Glücklichsein üben und erlernen kann. Hier spielen seit alter Zeit die Religionen eine gewichtige Rolle.

Die Idee der sozialen Marktwirtschaft war ja geprägt vom Gedanken einer Verbindung von Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit.


Ganz anders gelagert ist die Frage nach der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit kommt als Erfahrung nicht hauptsächlich von innen wie das Glück, auch wenn es äußere Ursachen haben mag. Gerechtigkeit erwächst aus der sozialen Einbindung. Aristoteles hatte zwei Arten der Gerechtigkeit unterschieden: die ‚Tauschgerechtigkeit‘ und die ‚Verteilungsgerechtigkeit‘. Die Tauschgerechtigkeit erwächst aus Gabe und Gegengabe wie ein gerechter Lohn oder gerechter Preis. Sie ist – auf den ersten Blick – charakteristisch für die moderne kapitalistische Gesellschaft, in der alles nach Leistung und Lohn bewertet wird. Hier gibt es die große Illusion, dass jeder seines Glückes Schmied sei, dass große Vermögen das Resultat von viel Arbeit seien. Man hat, so der ideologische Gedanke, in seiner genetischen Ausstattung, seiner (so wird behauptet) angeborenen Intelligenz, eben gewisse Talente als Geschenk erhalten und nutzt sie. Fleißige Arbeit, ein wenig günstige Umstände – und schon wird aus einem begabten jungen Mann ein Bill Gates, der etwas anzubieten hat (die Produktpalette von Microsoft). Das wird von vielen als gerecht empfunden, denn der Begünstigte hat ja als Gegengabe für seinen Reichtum etwas geleistet. Doch im modernen Kapitalismus zählt eben nicht nur Leistung, sondern auch reines Glück (Fortuna), etwa das, als reicher, durchaus ansehnlicher, aber auch fauler Sohn und Erbe geboren zu sein. Da Fortuna oft zu erheblichen Unterschieden führt, wird immer wieder eine nachbessernde Gerechtigkeit gefordert im Sinn der aristotelischen Verteilungsgerechtigkeit. Benachteiligte sollen durch Umverteilung besser gestellt werden. Wer vom Schicksal in unglückliche Umstände gerät, dem hilft der Sozialstaat. Die Idee der sozialen Marktwirtschaft war ja geprägt vom Gedanken einer Verbindung von Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit. Die Hauptarbeit sollte das individuelle Geschick auf den Märkten erledigen, dann aber nachgebessert für Alte, Kranke oder vom Schicksal sonst Benachteiligte. Um eine gewisse Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen, werden auch Einkommen im Steuerrecht je nach ‚Tragfähigkeit‘ unterschiedlich belastet: Wer viel hat, kann auch geben – so die Idee.

Auch im Buddhismus gibt es die Diagnose, dass die Welt leidhaft ist.


Nun zeigt ein Blick auf die Entwicklung wenigstens nach dem Zweiten Weltkrieg, in der diese Idee in Europa und den USA umgesetzt wurde, allerdings ein ganz anderes Bild. Die Einkommen wurden nicht durch gerechte Besteuerung gleichmäßiger verteilt. Umgekehrt, die Reichen wurden immer reicher, die Ärmeren blieben bestenfalls auf einem niedrigen Niveau. Hier war allerdings kaum ein Schicksal am Werk, eher schon eine Mischung aus Wirtschaftsmacht, politischer Korruption und Manipulationen vielfältiger Art. Die schnellsten Märkte, die Börsen, funktionieren nicht nach einem Prinzip, bei dem Leistungsträger ihre Leistungen anbieten und sich daraus dann Kurse ergeben. Vielmehr werden durch finanztechnische Tricks die Märkte systematisch manipuliert, jüngst in immer stärkerem Maße durch den Computerhandel, zu dem nur wenige Zugang haben. Wenn ein gewöhnlicher Anleger mit Aktien handelt, kommt er immer zu spät. Hier regiert nicht mehr Fortuna, sondern reine Manipulation. Auf anderen Märkten steht es nicht viel besser. Die Idee, Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit durch die Institution ‚Markt‘ zu versöhnen, hat sich als historische Illusion erwiesen. Nicht nur Südamerikaner, Griechen, Spanier oder Menschen aus Osteuropa stellen sich deshalb die Frage, weshalb gerade sie in eine missliche Lage geraten sind, während in Deutschland, England oder den USA eine reiche Elite mehr als ein gutes Leben führt, bewacht von Sicherheitspersonal und durch erheblichen politischen Einfluss geschützt. Niemand wird solch ein durch wirtschaftliche und politische Macht hergestelltes ‚Glück‘ als gerecht empfinden.

Letzte Ursache aller Erfahrungen ist der eigene Geist.


Nun sind die genannten Erfahrungen zwar aktuell, keineswegs aber grundlegend neu. Die Frage nach der Gerechtigkeit hat zwar – herkommend aus der griechischen Philosophie – durchaus einen inneren Bezug zur Entwicklung der Geldwirtschaft. Doch sie wird davon immer stärker losgelöst als eine allgemeine Lebensfrage behandelt, und sie kehrt vor allem im religiösen Kontext wieder. Die Antworten dort könnten unterschiedlicher nicht sein, auch wenn die vorausgesetzte Erfahrung wohl durchaus gemeinsam ist. Jedermann kann Beispiele von vom Schicksal begünstigten Menschen nennen. Und jeder kennt zahlreiche unglückliche Schicksale: Krankheiten, der Verlust von Angehörigen – kurz, all das, was man ‚Schicksalsschläge‘ nennt. Äußere Ursachen sind in der Regel nicht erkennbar. Also wurden andere Antworten gesucht. Man kann Religionen als Versuch bezeichnen, auf diese Frage eine große Antwort zu geben.

94 reich wird reicherDa die Ursachen für Fortuna nicht erkennbar sind, hatten sie die alten Griechen einfach in eine Göttin verwandelt, die im Hintergrund die Schicksalsfäden zieht. Diese Denkfigur lässt sich leicht durchschauen. Was wir als äußeren Zufall erleben, für das wir keine äußeren Einflüsse erkennen, dafür sucht man verborgene Ursachen oder ein verborgenes Subjekt, das die Geschicke lenkt. Kandidaten für diese verborgenen – auch ‚okkult‘ genannten – Ursachen gibt es viele. Und es ist keineswegs so, dass die alten Antworten durch die Aufklärung und die Wissenschaften verschwunden wären. Die Astrologie erklärt über den Geburtszeitpunkt die Planeten als verantwortliche Ursachen. Moderne Verschwörungstheorien sehen andere Mächte am Werk; die Illuminati sind nur die populärste Variante für diesen Gedanken. Dass es tatsächlich alltäglich zahlreiche Verschwörungen gibt, die von außen als ‚Schicksal‘ erscheinen, sei keinen Augenblick geleugnet. Mein kleiner Hinweis auf Börsenmanipulationen durch den Computerhandel konnte das illustrieren. Man kann oft von außen nicht erkennen, ob reiner Zufall oder doch eine verborgene Manipulation am Werke war. Zudem gibt es auch heute noch unbekannte Ursachen, die Wissenschaftler später erklären werden. Hat man früher bestimmte Krankheiten als reinen Schicksalsschlag gedeutet, Hexen oder Sterne verantwortlich gemacht, so hat die moderne Medizin zahlreiche Ursachen in Form von Bakterien oder etwa Viren entdeckt und so das Schicksal in die eigene Hand genommen. Klar ist aber auch, dass zahlreiche andere Schicksalsschläge unerklärt bleiben.
Nun haben die großen Weltreligionen darauf durchaus unterschiedliche Antworten gegeben. Die christliche Vorstellung aus der abrahamitischen Tradition ist in Europa die bekannteste: Ein Schöpfergott hat letztlich alles geschaffen. Er ist die erste Ursache aller Dinge, aller Ereignisse. Erklärungsbedarf entstand hier aus der unleugbaren Freiheit der Menschen. Wenn man freie Entscheidungen treffen kann, dann hat Gott ja über bestimmte Dinge keine Macht; er hat sie freiwillig an uns abgegeben. Doch letztlich kann er das nicht dulden. Deshalb werden unsere Entscheidungen und die daraus folgenden Taten nachträglich doch beurteilt, belohnt (Himmel) oder bestraft (Hölle). So werde – nicht in diesem sichtbaren Leben, wohl aber im Jenseits – jeder letztlich Gerechtigkeit durch göttliches Urteil erfahren. Man weiß aber nie, wie dieser reichlich unberechenbare Gott urteilt: „Gottes Wege sind unergründlich“ (Jesaja 55). Es gibt zahlreiche Beispiele dafür in der Bibel – vom Koran ganz zu schweigen. Und so haben Menschen oft ein Leben in nackter Angst verbracht: „In der Welt habt ihr Angst“ (Johannes 16.33). Die göttliche Gerechtigkeit soll hier einen Ausgleich im Jenseits schaffen – auch wenn eine ewige Verdammnis kaum als ‚gerechte‘ Strafe gelten kann: Keine menschliche Schuld ist unendlich, die Strafe schon. Das gilt für eine Belohnung im Himmel nicht minder: Was immer jemand Gutes tat, die ewige Seligkeit ist weit mehr als solches Verdienst.

Glück als Erlebnis ist kein bloßes Produkt äußerer Umstände.


Auch im Buddhismus gibt es die Diagnose, dass die Welt leidhaft ist. Doch hier gilt kein fremder Gott, sondern das eigene Handeln als Ursache für spätere Erfahrungen: Karma genannt. Das Karma rechnet genauer als ein strafender Gott und soll so jede Handlung später exakt vergelten. Ich habe mich mehrfach kritisch über diesen naiven Karma-Begriff geäußert (vergleiche ‚Was ist Karma?‘, Ursache & Wirkung 80, 2012), der eigentlich nur einen willkürlich strafenden/belohnenden Gott durch genauere Berechnung von Verdienst ersetzen soll. Doch bleibt ein tiefer, wahrer Kern in der buddhistischen Karma-Theorie: Letzte Ursache aller Erfahrungen ist der eigene Geist. Glück als Erlebnis ist kein bloßes Produkt äußerer Umstände. Man kann es durch Geistestraining sehr wohl beeinflussen. Zwar lässt sich oft nicht die äußere Welt, wohl aber die erlebte verändern. Eine wesentliche Bedingung für das Geistestraining ist dabei das ethische Handeln. Denn wahres Glück findet man nicht im abgetrennten Ich, sondern nur durch Mitgefühl gemeinsam mit anderen. Jenseits der Ich-Grenzen verschwindet die Frage nach der Gerechtigkeit. Das ist vielleicht das tiefste Geheimnis für ein gutes Leben und der wichtigste Beitrag der buddhistischen Lehre: die Lehre vom Mitgefühl. Hier ist erkannt, dass wir unsere Welt nur gemeinsam erleben und in unseren Handlungen auch teilweise gemeinsam hervorbringen.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 94: „Ein gutes Leben"

UW94 COVER


Die Ich-Grenzen sind illusorisch. Karmische Wirkungen sind, so verstanden, einfach das Ergebnis der Ich-Verblendung. Wem die anderen so wichtig sind wie das eigene Wohlergehen, der fragt nicht nach abstrakter Gerechtigkeit. Dennoch erwächst gerade daraus das Engagement, sich Ungerechtigkeiten, die andere erfahren, umso mehr in den Weg zu stellen. Die Praxis des Mitgefühls ist nicht fatalistisch, sondern höchst aktiv. Glück finden wir nur gemeinsam in der Erkenntnis unserer innersten Natur, im Raum der Achtsamkeit, in dem wir alle verbunden sind und woraus erst alle Dinge Bedeutung haben. Daraus ergibt sich: Für individuell erlebtes Glück gibt es kein äußeres Maß der Gerechtigkeit. Aber: Ein ‚gutes Leben‘, das auf Kosten anderer hergestellt wird, ist grundsätzlich ungerecht. Wer sein Ich über das der anderen stellt, bringt – vielleicht ohne es zu ahnen – auch die Quelle des eigenen Glücks zum Versiegen.

Illustration © Francesco Ciccolella
Header © unsplash


Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Prof. em. Dr. Karl-Heinz Brodbeck war bis 2014 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der FH Würzburg und der Hochschule für Politik, München. Er ist Dharma-Praktizierender seit über 40 Jahren, beeinflusst vor allem durch Theorie und Praxis des Mādhyamaka-Systems. Zahlreiche Publikationen,...
Kommentare  
# Uwe Meisenbacher 2017-04-19 22:04
Hallo Herr Brodbeck,

Ihr Artikel ist ein sehr guter Aufklärungsbeitrag und das nicht nur für Buddhisten.

Die herrschenden Finanz-, Wirtschaft-, und
Politikeliten, verhindern eine soziale und um-
weltverträgliche Ökonomie: Durch ihre maß-
lose Gier nach Profitmaximierung ist ihnen
Ethik, Moral und Gemeinwohl, scheißegal. Sie machen Reiche reicher und Arme ärmer und zerstören die für uns lebensnotwendige natürliche Umwelt.
So darf es nicht weiter gehen, wir Menschen müssen
mehr Empathie entwickeln und gegen diese Verblendungen aktiv werden, um solche fiesen, ungerechten, menschenverachtenden, selbstzerstörenden Verhaltensweisen
zu verändern.
Buddhas Pfad der Weisheit „mache das Heilsame , lasse das Unheilsame und entwickle
deinen Geist“, ist eine gut praktizierende Anleitung.

Mit freundlichen, aberglaubensfreien, heilsamen, buddhistischen Grüßen

Uwe Meisenbacher
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# Karola Falge 2020-04-04 09:35
Ja das Glück ist in dieser ge
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# Karola Falge 2020-04-04 09:36
In dieser Gesellschaft zählt nur noch was wir als Mensch besitzen nicht was wir als Mensch sind
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