Es gibt viele Täuschungen in der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ein philosophischer Spaziergang zwischen Illusionen auf der Suche nach Gleichmut.
Joseph Roth, der scharfsichtige Schriftsteller und Journalist, schrieb 1930: „Der Respekt vor der Wirklichkeit ist so groß, dass selbst die erlogene Wirklichkeit geglaubt wird.“ Hannah Arendt übernahm diesen Gedanken in ihrem Buch ‚Wahrheit und Politik‘ und erweiterte Roths Diagnose um drei wichtige Punkte: Erstens muss man Lügen, Propaganda oder Fälschungen in andere Sachverhalte einbetten, so dass eine Lüge ‚plausibel‘ erscheinen kann. Fakten, sagt Arendt, sind oft überraschend, machen uns ratlos. Deshalb sind Lügen viel plausibler, weil sie an Bekanntes anknüpfen oder bekannte Bilder verwenden.
Lügen sind viel plausibler, weil sie an Bekanntes anknüpfen oder bekannte Bilder verwenden.
Zweitens: Damit verknüpft, muss man Lügen in einen Gesamtzusammenhang einbetten, indem man eine Geschichte erzählt. Geschichten klingen durch die Erzählstruktur glaubhaft. Die Berichterstattung auch in den seriösen Medien ist in den letzten Jahren immer mehr dazu übergegangen, nicht Fakten zu berichten, sondern Geschichten zu erzählen, Einzelbeispiele als Repräsentanten für einen komplexen Zusammenhang zu wählen. Das Storytelling wurde zu einer journalistischen Standardtechnik. Oft tritt an die Stelle einer Geschichte auch einfach ein Bild, ein Foto oder ein kurzes Video.
Drittens, um nochmals Hannah Arendts Gedankenlinie aufzugreifen, muss der Lügner, der Propagandist, der Betrüger selbst von seiner eigenen Geschichte überzeugt sein. Er muss, um wahrhaftig zu erscheinen, zuallererst sich selbst betrügen. Dieser Gedanke ist insofern besonders wichtig, weil das Ich jedes Menschen keine bleibende Substanz, kein harter Kern im Bewusstsein ist. Vielmehr wird das Ich immer wieder neu aus Erfahrungen, aus Gedanken aufgebaut oder konstruiert. Wer sich in einer Welt der Lüge, einer Welt der Fakes bewegt, der wird früher oder später aus dieser erlogenen Wirklichkeit ein Fake-Ego, ein illusionäres Ich, aufbauen.
Das galt schon in alter Zeit, hatte doch der Buddha diese illusionäre Selbsterzeugung aus Gewohnheiten, aus ergriffenen Sachverhalten – man beachte: Be-Griff – analysiert und Methoden entwickelt, wie man diesen Selbstbetrug in der Meditation oder durch Mitgefühl schrittweise überwinden kann. Spätere buddhistische Autoren wie Nāgārjuna, aber auch die erkenntnistheoretische Schule um Dignāga und Dharmakīrti haben dies systematisiert und in eine allgemeinere Philosophie verwandelt.
Der Kern ihrer Einsicht ist für unsere Frage nach Lügen, Illusionen oder Fake News hier von besonderer Bedeutung: Sie zeigen, dass jegliches Erfassen der Wirklichkeit durch Begriffe illusionär ist. Begriffe funktionieren – wie der Ausdruck im Buddhismus heißt – als ‚konventionelle Wahrheit‘. Auch Buddha hat erklärt, dass er im alltäglichen Gespräch ‚Ich‘ sagt, wohl wissend, dass es sich um eine Fiktion handelt, allerdings um eine Fiktion, die alltäglich, die konventionell funktioniert. Fängt man jedoch an, solche Fiktionen – andere wären Substanz, Materie, Seele, Gott, auch Buddhismus – genauer zu analysieren, so zeigt sich ihre Leerheit. Sie sind nicht Nichts, denn sie funktionieren ja. Aber sie verweisen auch nicht auf eine äußere, mit sich identische Wirklichkeit.
Im Sinne einer ‚absoluten Wahrheit‘, wie sie im Buddhismus erkannt wird, sind alle Begriffe leer, gleiten also letztlich an der Erfahrung, der Wahrnehmung ab, gleiten ab von dem, was wir als Wirklichkeit zu erleben vermeinen. Neben dieser absoluten Wahrheit gibt es aber eine relative Wahrheit – und darin stimmt die buddhistische Analyse weitgehend mit der europäischen Philosophie und Wissenschaft überein. Wenn jemand am Telefon sagt: „Draußen regnet es“, während tatsächlich die Sonne scheint, dann ist dies eine konventionelle Lüge. Jeder kann sie leicht als Lüge entlarven, wenn man sich auf dieselbe Beobachtung bezieht.
Allerdings wird hier schon ein kritisches Moment sichtbar: Lügen sind umso leichter zu fabrizieren, je weiter entfernt oder je verborgener ein Ereignis ist. Wenn wir in der Zeitung lesen, dass im CERN, im großen Teilchenbeschleuniger nahe Genf, ein neues Teilchen namens Higgs-Boson entdeckt wurde, so haben wir fast keine Möglichkeit, das zu überprüfen. Und dies gleich aus mehreren Gründen: Nur sehr wenige Menschen wissen, was das überhaupt ist. Für viele besteht bei dieser Nachricht kein Unterschied zu einem Bericht, jemand habe ein Ufo oder einen Geist gesehen. Erfahren wir dann auch noch, dass diese Beobachtung nur 10-22 Sekunden (das ist eine Zahl 1 geteilt durch eine Eins mit 22 Nullen) lang dauerte und dass man nicht einmal das Higgs-Boson selbst, sondern nur seine Spuren beobachtet hat, so werden sich viele kopfschüttelnd einfach abwenden. Man akzeptiert nur, das sei irgendwie wichtig für eine Wissenschaft, die obendrein nur sehr wenige studiert und noch weniger die Teilchenphysik verstanden haben – der Verfasser nimmt sich hier natürlich nicht aus.
Lügen sind viel plausibler, weil sie an Bekanntes anknüpfen oder bekannte Bilder verwenden.
Es ist in der Moderne sicher nicht einfacher geworden, auch nur im konventionellen Sinn von Wahrheit überhaupt zu sprechen, also eine Wahrheit, die sich auf beobachtbare Dinge bezieht. Fast alle Wahrheiten der Gegenwart existieren für uns nur indirekt. Die Ergebnisse der Wissenschaften, wie immer schön bebildert im Internet- oder Fernsehvideo verständlich präsentiert, bleiben uns letztlich doch ein Rätsel. Wir glauben einfach, dass das schon irgendwie wichtig und richtig sei, oder wir genießen eine entsprechende Präsentation, falls sie gut gemacht ist, wie ein Märchen oder einen Spielfilm. Wenn sich gelegentlich Redner, die eher nur eine psychologische oder geisteswissenschaftliche Vorbildung besitzen, auf ‚die‘ Quantenphysik oder ‚die‘ neuere Hirnforschung berufen, so darf man solche Begründungen durchaus als das nehmen, was sie sind: Luftblasen.
Der amerikanische Schriftsteller William Gaddis hat 1955 ein wunderbares, dickleibiges Buch geschrieben, das im Deutschen einen treffenden Titel trägt: ‚Die Fälschung der Welt‘. Darin findet sich die Bemerkung: „Fälschungen, wohin man sieht.“ Vom Standpunkt des Mahāyāna-Buddhismus aus überrascht diese Bemerkung nicht, dass im Sinn der absoluten Wahrheit tatsächlich die gesamte Wirklichkeit, wie Nāgārjuna sagt, ‚als Fata Morgana, als Luftspiegelung, als Traumgebilde‘ erscheint. Doch diese absolute Wahrheit kann, darf und soll keineswegs Fälschern die Ausrede liefern, nun auch im konventionellen Sinn einfach unbeschwert Tatsachen, die jeder letztlich überprüfen kann, zu verdrehen. Dies seien, sagt der Lügner, ‚alternative Fakten‘, da es in einer postfaktischen Zeit ohnehin beliebig viele Wahrheiten gebe und die Grenze zur Lüge gar nicht mehr gezogen werden könne.
Lügen sind umso leichter zu fabrizieren, je weiter entfernt oder je verborgener ein Ereignis ist.
Die Wahrheit zu sagen, umgekehrt aber auch das Recht, die Wahrheit zu erfahren – das ist untrennbar mit der buddhistischen Ethik verknüpft. Dies auch und gerade dann, wenn man durchschaut, dass sich im absoluten Sinn alle Aussagen nicht auf ewige Tatsachen, sondern auf eine höchst vergängliche Welt beziehen. Im Gegenteil. Weil letztlich alle Phänomene verursacht sind, in gegenseitiger Abhängigkeit mit anderen Phänomenen entstehen und vergehen, weil sie also leer sind an einer Identität, eben deshalb ist es überhaupt nur möglich, dass man in diesem Netzwerk Lügen erfinden kann. Bestünde zwischen einem Satz und einem Ding eine notwendige Beziehung, wären sowohl der Satz wie das Ding in ihrer Bedeutung völlig unabhängig, eine Lüge wäre unmöglich. Es ist also gerade die Einsicht in die leere Natur aller Phänomene, die uns verstehen lässt, wie Fakes überhaupt möglich sind.
Nun ist es eine traurige Wahrheit, dass diese Möglichkeit immer schon genutzt wurde für Lügen, Betrug, aber auch für systematisch erzeugte Illusionen. Diese Möglichkeit hat durch die neue Technik eine bislang ungeahnte Dimension erreicht. Mussten in alten Zeiten die Lehrer eher auf abseitige Beispiele wie auf eine Luftspiegelung oder die Tricks eines Zauberers verweisen, so ist es in der Gegenwart umgekehrt: Man steht vielmehr vor der Frage, was eigentlich keine Illusion ist. Wer in einem Zug fährt oder eine Straße entlanggeht, der bemerkt, dass die Menschen (und hier keineswegs nur die jungen Leute) ihren Blick fest auf ihr Smartphone richten. Zu Hause sitzen sie vor dem Laptop oder dem Fernsehgerät und lassen sich von einer endlosen Folge von Bildern oder Tönen berieseln. Wir leben immer mehr in einer nahezu hermetisch geschlossenen medialen Welt.
Wer früher ein Buch las, der konnte bei achtsamem Lesen wohl auch träumen. Von einem gut gemachten Film oder Video aber nicht einfach mitgerissen zu werden ist dagegen schon keine Frage der Achtsamkeit mehr. Die Differenz zwischen Illusion und Wirklichkeit ist in der modernen Welt kaum mehr zu erkennen. Ob eine Kamera ein wirkliches Ereignis einfängt oder eine Fake-Szene, bleibt am Bildschirm unerkennbar. Hier wird zur Alltagserfahrung, was in der traditionellen Logik immer betont wurde: Wie man einem Satz als Satz nicht ansieht, ob er wahr ist, so sieht man einem Bild als Bild, hört einer Stimme als Stimme nicht mehr unmittelbar an, ob sich dies auf eine auch unabhängig von solch einer medialen Vermittlung erfahrbare Wirklichkeit bezieht.
Wie aber kann man sich in solch einer Welt noch bewegen, ohne sich nicht unaufhörlich nur als Objekt von Manipulationen zu empfinden? Wie ist in solch einer Welt Gleichmut noch möglich? Der im Buddhismus verwendete Begriff ‚Upekṣā‘ (Sanskrit) lässt sich durch Gleichmut oder Gelassenheit übersetzen, was im Englischen meist in dem Wort ‚equanimity‘ ohnehin nicht unterschieden wird.
Gleichmut ist einer der vier unermesslichen Verweilzustände, Brahmavihāra (Pali), neben Liebe, Mitgefühl und Mitfreude. Der Sinn, diese vier Tugenden zu üben, besteht darin, vom Ergreifen von Dingen oder vom Ergreifen eines fiktiven Egos unabhängig zu werden. Gleichmut wird schrittweise verwirklicht, wenn man die absolute Wahrheit, dass jegliche begriffliche Wahrnehmung schon ein Ergreifen, eine Verblendung beinhaltet, durch Achtsamkeit immer mehr in seinen Alltag integrieren kann. Gar nicht erst zu ergreifen ist als Übung wenigstens anfangs fast unmöglich; wir müssen den Gleichmut dann durch Loslassen des zuvor Ergriffenen verwirklichen. Der erste Schritt besteht aber darin, Illusionen und Lügen zu durchschauen, sich von ihnen nicht mehr lenken zu lassen.
Die Wahrheit zu sagen, umgekehrt aber auch das Recht, die Wahrheit zu erfahren – das ist untrennbar mit der buddhistischen Ethik verknüpft.
Nun wird man völlig zu Recht einwenden: Schön gesagt, aber wie soll man in einer Welt der Medien, in der Lüge und Wahrheit vielfach ununterscheidbar geworden sind, auch nur den ersten Schritt tun? Kaum erhebt sich ein Praktizierender vom Sitzkissen, eins mit seinem Atem geworden und die Gedanken gereinigt – schon piepst das Smartphone, flimmern Nachrichten über den PC-Bildschirm und ziehen uns sofort wieder in eine Welt der Täuschungen. Die wohl wichtigste Übung besteht darin, eben genau dies immer mehr zu bemerken, zu erkennen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 104: „Wie Gelassenheit geht"
Buddha gab dazu den Ratschlag: „So musst du dich üben: Wenn etwas gesehen wird, soll es nur Gesehenes sein“ (Udana I.10). Das bedeutet, die Flut der Bilder aus den Medien zuerst als das nehmen, was sie sind: Bilder. In einem zweiten Schritt kann man sich dann dabei beobachten, wie dadurch Gefühle und Erinnerungen wachgerufen werden. Man braucht nicht immer und sogleich alles Gesehene nach wahr und falsch zu sortieren, eine Einteilung, die für uns ohnehin nur sehr selten möglich ist. Das führt keineswegs zur Gleichgültigkeit. Wohl aber kann man die Reaktion auf solche Bilder, also ihre Geltung, durchaus achtsam verändern; auch die Gedanken, die man im inneren Dialog sonst unaufhörlich daran knüpft. So lässt sich selbst in einer reichlich verrückt gewordenen, durchaus vielfach ‚erlogenen Wirklichkeit‘ ein achtsames, mitfühlendes Leben verwirklichen. Wer in bestimmten Bereichen Expertin/Experte ist, kann zudem mithelfen, erkennbare Fake News zu entlarven, und so andere dabei unterstützen, sich nicht von einer Angst in die nächste treiben zu lassen. Denn das ist auch der eigentliche Zweck jener Fakes, die als News erscheinen wollen.
Illustrationen © Francesco Ciccolella
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