Wie kann man in dieser Zeit bewusst und buddhistisch leben? Eine persönliche Einschätzung in acht Thesen.
Ich zögere, mich nach all den Jahren der Übung, des Lesens der Reden des Buddha, des Schreibens und Lehrens darüber, nach den Begegnungen mit den Anhängern verschiedener Traditionen und Religionen, ich zögere, mich selbst als Buddhisten zu bezeichnen. Warum, da ich doch offensichtlich weitgehend diesem Weg überzeugt und auf meine Weise folge? Weil ich ausgrenzende Bezeichnungen als nicht hilfreich und vielfach als äußerst schädlich ansehe und durch sie viele Menschen ihr Leben lang in die Irre geführt werden.
Was gibt mir in meinem Inneren dennoch das Vertrauen, auf einem gültigen Weg durch alle Wirrungen zu sein, was gibt mir die Kraft, als philosophischer und zweifelnder Geist, als Erbe der europäischen Aufklärung von den Grundsätzen der Lehre des Buddha so überzeugt zu sein, dass ich es als meine Lebensaufgabe empfinde, diese Lehren in die demokratischen, reflektierten und humanistischen Strukturen unserer westlichen Kultur zu integrieren?
Es sind die folgenden acht Thesen.
1. Üben. Buddhas System beinhaltet eine Aufforderung zum lebenslangen Üben und Lernen, eine Anleitung zum Training und zur Verfeinerung des eigenen Geistes. Übung heißt nicht nur, die vielbeschworene und oft falsch verstandene Achtsamkeit anzuwenden, sondern baut auf das Bewusstsein, dass der Geist ein machtvolles Element ist, das unsere Welten erschafft und erleben kann, wie sie wieder vergehen. Und dass in diesem Geist auch die Kraft liegt, sich von diesem ewigen Werden und Vergehen zu lösen. Das ist ein philosophischer Ansatz, der dann zum Buddhismus wird, wenn er die Theorie transzendiert, ohne einen ‚Glauben‘ zu verlangen. Was jedoch verlangt wird, ist: Üben, üben, üben und dann ‚nur‘ den eigenen Erfahrungen und Ergebnissen der Übung zu vertrauen.
2. Handeln. Üben macht nur dann Sinn, wenn es sich im Denken, Reden und Handeln wiederfindet. Eine der interessantesten Übungen besteht darin, sich immer wieder und besonders in kritischen Momenten vorzustellen, wie sich der Buddha oder sonst ein weiser Mensch verhielte, und dieses zu versuchen. Nicht die Einhaltung oder Missachtung ethischer Regeln macht uns zu Buddhisten, sondern die Einsicht, welche Handlung gerade hilfreich ist, sodass ich ihr folge, oder welche schädlich ist, sodass ich sie lasse. Das bedarf reflektierender Meditation, um Heilsames und nicht Heilsames zu erkennen. Daraus folgt eine Ethik ohne Regeln – und das ist eine bewusst buddhistische Haltung. Was nicht bedeutet, dass Regeln manchmal nicht doch sehr nützlich sind, wenn sie der Übung von Achtsamkeit dienen und helfen, uns zu erinnern.
3. Vertrauen statt Glauben. In der heutigen Weltlage ist es besonders wichtig, ein klares Wort gegen die Forderungen der Religionen (auch des Buddhismus) an einen Glauben als unverzichtbares Element zu äußern. Ein Glaube, der sich oft als blind manifestiert, als ein Nicht-Infragestellen, als ein Hängen an Formen, Riten, Regeln, an Gebeten, an wörtlichen Überlieferungen, Interpretationen und Autoritäten. Angesichts des offensichtlichen, aber vielfach nicht wahrgenommenen Unheils, das davon ausgeht, ist die Abwendung vom Glauben die vielleicht radikalste Form von zeitgemäßer Spiritualität, die aber im buddhistischen System durchaus verankert ist. Es geht nicht darum, andere religiöse Formen des Glaubens zu verteufeln, sondern auf die immanenten Gefahren aufmerksam zu machen. Man kann tief spirituell sein, ohne den eigenen Glauben als ein Mittel der Abgrenzung und Feindschaft zu nehmen. Dennoch ist Vertrauen unabdingbar, denn wie sollte man einen Weg unermüdlich gehen, wenn man nicht darauf vertraut, dass die Landkarte, der man folgt, nicht in die Irre führt? Bewusst buddhistisch heißt allerdings, immer wieder selbst zu überprüfen, wo man sich befindet und ob man die im Plan angegebenen Stationen findet. Wenn ja, dann wird aus dem Vertrauen ein Wissen.
4. Selbsterkenntnis. Buddhas Weg führt zu dir selbst, indem du erkennst, wie du funktionierst und was dich fesselt. Damit verbindet sich die Lehre ausgezeichnet mit den Formen der humanistischen Psychologie. Meditation lenkt die Achtsamkeit auf die inneren Prozesse, enthüllt die individuellen Strukturen und erkennt die geistigen Hindernisse. Eine Person von solchen Beeinträchtigungen zu befreien, das ist buddhistische Psychotherapie. Meditation beinhaltet solche innere Arbeit, doch meistens wird eine zusätzliche Therapie zur inneren Klärung notwendig sein. Denn es ist ein Kernelement der buddhistischen Betrachtung, die eigene Persönlichkeit zu untersuchen, ihre Zusammensetzung und die Faktoren des Anhaftens zu sehen und ihre illusionäre Struktur zu durchschauen. Allerdings nicht als philosophisches Konzept, sondern als meditative Erfahrung.
5. Achtsamkeit. Ohne aufzumerken und bewusst zu werden, gibt es keinen Weg. Deshalb ist Achtsamkeit die wichtigste Qualität, die zu entfalten ist. So heißt es in einer grundlegenden Rede: „Der eine Weg ist dies, ihr Mönche, zur Läuterung der Lebewesen, zur Überwindung von Kummer und Klage, zum Untergang von Leiden und Betrübtheit ...“ Wenn man etwas untersuchen und erkennen will, aber nicht hinschaut, dann kann man nichts sehen und nichts verstehen oder man macht sich ein falsches Bild. Achtsamkeit ist die Fähigkeit des Geistes, etwas so wahrzunehmen, wie es sich präsentiert, die Fähigkeit, tiefer und mit weniger Voreingenommenheit zu schauen. Interessant wird es erst, wenn wir diese Achtsamkeit auf uns selbst richten.
6. Begehren. Woran sich die Geister westlicher Buddhisten oft scheiden, ist die Frage, ob es unverzichtbar ist, das Begehren, vor allem sexuelles oder lustbetontes, zu überwinden und aufzugeben, oder ob ein buddhistischer Weg mit Begehren – aber vielleicht ohne Anhaften – möglich ist. Das ist die falsche Frage, denn beide Wege sind möglich. Es geht vielmehr darum, einzusehen, dass es tatsächlich dieser Impuls – in Buddhas Worten der Durst – ist, der die Menschen antreibt und fesselt, der sie leiden lässt. Bewusst buddhistisch bedeutet, diesen Treibstoff der Existenz zu merken und davon überzeugt zu sein, dass die Lösung von diesem Trieb der Schlüssel ist, der das Tor zum Erwachen öffnet. In diesem Sinn stelle ich bewusst nicht das Ziel des Erwachens oder der Erleuchtung als eine der Thesen auf. Das Streben nach Erwachen wird als Konzept ein Hindernis sein, denn man kann es sich weder vorstellen noch erreichen. Es kann nur als eine Folge des Erkennens eintreten.
7. Freundschaft. Der Buddha empfiehlt einerseits die Einsamkeit, den Rückzug und ein Leben ohne Bindung. Andererseits betont er die Wichtigkeit von sozialen Kontakten, Gemeinschaft und Freunden auf dem Weg. Das ist kein Widerspruch. Buddhistisch leben heißt für mich, beides zu vereinen, wobei in unserer Gesellschaft der Aspekt der Verbindung, des Zusammenlebens, der Begleitung und Freundschaft Vorrang hat. Freundschaft heißt in erster Linie, für andere da zu sein, indem man auch für sich selbst sorgt. Und es heißt, sich Unterstützung und Begleitung von hilfreichen Menschen und Vorbildern zu suchen. Besonders wichtig ist es, in einem Freund jemanden zu sehen, von dem man Kritik annehmen kann, ja sich diese sogar wünscht. Diese Bereitschaft fehlt in unserer Kultur weitgehend.
8. Liebe. Einmal lehrte der Buddha Mönchen, die von negativen Gedanken besetzt waren, diese bösen Geister durch die Übung der bedingungslosen Liebe zu besänftigen. Da im Wesen fast niemand ohne diese ‚bösen Geister‘ lebt, ist diese Übung zentral. Ohne die ‚Entfaltung der Liebe‘ bleibt der Weg wie ein Versuch, einen trockenen Garten mit Sand zu bewässern. Als Buddhisten sollten wir wissen, dass diese Liebe gelernt werden kann. Eine wunderbare Übung besteht darin, sich jeden Tag vorzunehmen, während der Begegnung mit anderen Wesen diese Liebe einzuladen und ihr einen entsprechenden Ausdruck zu geben.
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