In Ladakh bauen die Menschen künstliche Eisberge, um ihre Felder zu bewässern – die Bilder des Eis-Stupa Projekts sind in der U\W-Ausgabe 109 zu sehen.
In Ladakh scheinen sich die Horizonte noch ein wenig weiter zu erstrecken als anderswo und Raum zu geben, endlosen Raum. Die Ebenen sind von Bergen eingerahmt, die sich wie Erdhaufen türmen, und in der Ferne ragen die Gebirge des Karakorum und des Himalaya auf. Sofern man die Höhenluft verträgt – die Täler liegen auf gut 3.000 Metern –, ist es eine Wonne, auf- und durchzuatmen und das Gefühl von Weite und Zivilisationsferne in sich aufzunehmen. So manche Gegend dieses dünn besiedelten Landes ist nur durch Wege, nicht durch Straßen erschlossen, so manche Ortschaft hat keinen Strom. Es ist auch eine Wonne, sich den Blicken hinzugeben: Der türkisfarbene Indus schlängelt sich durch sein breites Tal, Seen wie der Tso Moriri, der Tso Kar oder der Pangong Tso heben sich tiefblau von den umgebenden kahlen Bergen ab.
Die Ortschaften mit ihren Lehmhäusern mit Flachdach schmiegen sich an Anhöhen, Menschen mit Maultieren, die mit Tierfutter oder Baumaterial beladen sind, kreuzen den Weg. Vielerorts sind Gebetsfahnen und Stupas beziehungsweise Chörten – die lokale Bezeichnung der Schreine – zu sehen: Die Region des Bundesstaates Jammu und Kaschmir im äußersten Norden Indiens geht auf ein buddhistisches Königreich zurück und ist eng mit der Tradition des Buddhismus verbunden, wie er im Nachbarland Tibet praktiziert wird.
Warum Menschen Eisberge schaffen
Ladakh ist von berückender Schönheit, wenn man es bereist, aber man merkt bald, dass es nicht leicht sein muss, hier zu leben. Die Ortschaften liegen auf Höhen zwischen 2.700 und 4.000 Metern, im Winter gehen die Temperaturen auf minus 30 Grad zurück. Und es ist eine karge Gebirgswüste: In vielen Tälern und erst recht auf den Bergen steht kein einziger Baum, grüne Vegetation findet sich nur längs der Flüsse und Seen, in Oasen und an den Unterläufen der Gletscher.
Wüste ist nicht nur so dahingesagt: Es regnet und schneit hier sehr wenig, im Durchschnitt nur 100 Milliliter im Jahr. Die Himalaya-Kette bildet quasi einen Riegel, der verhindert, dass der Monsun vom Subkontinent aus bis Ladakh vordringt. Anbauflächen sind insbesondere im oberen Indus-Tal zu sehen, die meisten Orte befinden sich im Umkreis der Gletscherausläufer, die nicht nur die Flüsse mit Wasser versorgen, sondern auch die Felder für den Anbau von Weizen und Gerste, Gemüse und Obst.
Fruchtbar machen
Die Menschen haben natürlich in Jahrhunderten gelernt, mit der Wasserknappheit umzugehen, und ausgefeilte Kanalsysteme entwickelt, um das Schmelzwasser zu den Anbauflächen, auch zu weiter entfernten, zu leiten. Aber das hatte immer schon seine Tücken: Denn im April und Mai brauchen die Landwirte viel Wasser, um ihre frisch bestellten Felder damit zu versorgen – doch genau zu der Zeit führen die Flüsse wenig, und es kam immer wieder zu Wasserknappheit. Ab Mitte Juni wiederum gibt es durch die Schnee- und Gletscherschmelze tendenziell zu viel davon. Von Mitte September an werden die landwirtschaftlichen Flächen nicht mehr bewirtschaftet, das Gletscherwasser aber fließt, wenn auch in kleinerem Umfang, bis in den Frühling hinein weiter und landet ungenutzt in den Flüssen.
Das System hat lange funktioniert, mal besser, mal weniger gut. Aber in den letzten Jahren ist die Wasserknappheit im Frühjahr zu einem echten Problem geworden, denn die Gletscher ziehen sich im Zuge des Klimawandels – aber auch durch lokale Umweltverschmutzung – immer weiter zurück; auf der anderen Seite kommt es durch die beschleunigte Schmelze in den heißen Sommern gelegentlich sogar zu Überflutungen.
Der aus Ladakh gebürtige Ingenieur Sonam Wangchuk suchte nach einer Lösung, das Gletscherwasser im Winter zu sammeln, sodass es den Bauern im Frühling, wenn sie es für ihre Felder am meisten brauchen, zugutekommt. Seine Idee war, Mini-Gletscher zu schaffen, die im Laufe des Frühlings wegschmelzen und damit die darunterliegenden Äcker mit Wasser versorgen.
Im Jahr 2013 verlegte Sonam Wangchuk mit seinem Team eine Rohrleitung, die von einem Gletscher oberhalb des Dorfes Phyang bis zu einem bestimmten Standort dortselbst reichte. Eine igluförmige Netzstruktur wurde aufgebaut. In der Mitte des Baus verlief das Rohr vertikal nach oben und durchstieß das Netz. Das vom Gletscher herabfließende Wasser schoss durch den eigenen Druck nach oben und durch die Rohröffnung. Dort gefror es sofort. Nach und nach bedeckte das Eis das gesamte Gebäude, das ganz von selbst die Form eines großen Kegels annahm.
Dazu Sonam Wangchuk: „Der Prototyp, der damals, Anfang des Jahres 2014, entstand, erinnerte uns von der Form her an einen Stupa und so nannten wir ihn Eis-Stupa. Er war zwei Stockwerke hoch, aber wir wussten, dass wir ihn durch Verlängerung des aus dem Eis-Stupa ragenden Rohrs beliebig – auf bis zu zwölf Stockwerke – vergrößern konnten. Das Besondere an der Konstruktion ist: Man braucht weder Strom noch Maschinen, um sie zu betreiben – nur die Schwerkraft des fließenden Wassers gletscherabwärts. Der Lackmustest war, ob sich der Eis-Stupa bis Mai halten oder wegschmelzen würde. Zu unserer freudigen Überraschung war er im Mai immer noch ein Stockwerk hoch – obwohl er die ganze Zeit der Sonne ausgesetzt war!“ Das wiederum liegt an seiner konischen Form, die der Sonne eine kleinere Angriffsfläche bietet als andere Formen.
Ende Mai war dann der Zauber vorbei, der Eis-Stupa weggeschmolzen und nur noch das netzartige Skelett übrig geblieben – aber er hatte seine Mission erfüllt, die Bauern von Phyang mit Wasser für ihre Felder zu versorgen. Und war damit zugleich ein schönes Sinnbild für ‚Anicca‘ – Impermanenz, Unbeständigkeit, Vergänglichkeit –, im Buddhismus eines der Merkmale des Daseins.
Das Projekt war auch Drikung Kyabgön Chetsang Rinpoche, einem hohen Würdenträger des tibetischen Buddhismus, nicht entgangen. Er kam, um es sich anzusehen, und segnete den Eis-Stupa, der dadurch zu einem ‚echten‘ Stupa wurde. Aber nicht nur das, Drikung Kyabgön Chetsang war so beeindruckt, dass er einer der Schirmherren der Initiative ‚Ice Stupa Artificial Glaciers of Ladakh‘ wurde und den Plan vorantreibt, die etwa 600 Hektar große Wüste rund um das Phyang-Kloster mithilfe von Dutzenden Eis-Stupas maximaler Höhe in Grünland zu verwandeln. An der technischen, aber auch finanziellen Realisierbarkeit wird zurzeit gearbeitet.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 109: „Angst überwinden"
Vier- bis fünftausend Stupas sind in Ladakh über das ganze Land verstreut. Jetzt sind eben ein paar Stück aus Eis dazugekommen – im letzten Winter in zehn Dörfern. Ihr Nutzen ist für die Bevölkerung weniger spirituell, dafür umso mehr materiell. Man kann hineinkriechen und sich das grottenartige Eisgewölbe von innen ansehen. Aber die Dörfler gehen trotzdem auch von außen und im Uhrzeigersinn um das Gebilde herum, wie es sich für einen Stupa nun einmal gehört.
Ob sie das auch in Pontresina im Oberengadin tun, ist nicht bekannt. Der Bergsteigerort hat als Symbol der Verbundenheit mit der Region Ladakh am Fuße des Morteratschgletschers etliche Eis-Stupas errichten lassen. Für jene, die die Anfahrt nach Ladakh scheuen, wäre ein Besuch des Ice Stupa Village nicht die schlechteste Alternative.
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