Heute existiert im Westen eine Vielzahl von buddhistischen Traditionen. Gibt es den einen „authentischen Buddhismus“? Und wenn ja, wie viele?
Im Westen weist die buddhistische Lehre eine große Bandbreite an Schulen und Richtungen auf. Wo frühbuddhistisch orientierte Gruppen vornehmlich ein schlichtes Erlöschen vom Leiden der Welt in Aussicht stellen, bietet der tantrische Buddhismus beispielsweise eher positive Heilsversprechen und ein bunt schillerndes Pantheon von Meditationsgottheiten. Wie sollen Suchende da Orientierung finden? Was ist authentischer Buddhismus und was schmückendes Beiwerk, ja vielleicht sogar das Ergebnis fehlgeleiteter Entwicklungen?
Die Suche nach der wahren und reinen Lehre
Sowohl unter Buddhisten als auch bei einigen Buddhismusforschern gibt es Versuche, einen „ursprünglichen“ oder „reinen“ Buddhismus zu identifizieren.
Doch sind die Ansichten verschieden, wo er zu finden sei. Als authentische Lehren gelten den Theravada-Buddhisten allein die schriftlichen Überlieferungen des Pali-Kanon, nicht jedoch der Tantrismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Die Verkörperung der Lehre durch den Guru (als der Verkörperung eines lebenden Buddhas) ist hingegen für viele Anhänger des tibetischen Buddhismus der eigentliche Bezugspunkt ihrer religiösen Praxis. Dahinter steckt die Vorstellung, dass sich die ganze Weisheit der Lehre in der Person eines persönlichen Meisters konzentriere. Im Westen ist der späte Buddhismus populärer als der frühe. Vielleicht halten die meisten Anhänger ihn für eine reifere Form der Lehre, verkündet er doch großes Mitgefühl und die Befreiung aller Wesen. Aber die jüngsten Skandale von Mahayana-Meistern lösen mittlerweile ein Umdenken aus, plötzlich wird die „Reinheit“ der frühen Lehren wiederentdeckt und gegen „spätere Degenerationen“ verteidigt. Doch das Phänomen ist weitaus komplexer. Vorsicht ist geboten vor Vereinfachungen aller Art, etwa in der Überhöhung des Mahayana-Buddhismus als der Lehre vom Großen Mitgefühl und selbstlosen Bodhisattva-Handeln im Unterschied zu den Heilsegoisten des Theravada, die nur ihre eigene Erlösung erstrebten. Das Bodhisattva-Ideal ist keinesfalls eine Innovation des späteren Buddhismus, sondern findet sich bereits im frühen Textkorpus der Lehre und gilt auch dort als der höchste Weg. Wenn zum Beispiel vom Buddha in seinen vorangegangenen Inkarnationen die Rede ist, wird von ihm als „dem Bodhisattva“ gesprochen. Andererseits sollte man frühen Buddhismus nicht zum „unverfälschten Ursprung“ verklären. Zum einen ist von dieser Richtung mit ihrem breiten Spektrum von Lehrmeinungen heute allein die Schule des Theravada erhalten geblieben, und zum anderen lässt sich trotz der größeren zeitlichen Nähe auch der frühe Buddhismus nicht einfach mit dem „Buddhismus des Buddha“ gleichsetzen. Die Verschriftung der Buddha-Worte zum Pali-Kanon erfolgte erst mehrere Jahrhunderte nach Buddhas Tod. Des Weiteren existierten von Anfang an zu einer ganzen Reihe von Auslegungsfragen unterschiedliche Auffassungen, die sich später in einer umfangreichen Kommentationsliteratur niederschlugen.
Nüchterne Wirklichkeitssicht
Authentizität ist das große Zauberwort, die magische Chiffre von Reinheit, Wahrheit und Vollkommenheit, die Sehnsuchtsmetapher für eine Welt frei von Widersprüchen.
Kein Wunder, dass viele nur allzu bereit sind, Personen und Gruppen zu folgen, die ihnen dies in Aussicht stellen und dabei mit den unterschiedlichsten Argumentationsfiguren urbuddhistische Authentizität und Traditionstreue reklamieren. Da es im Buddhismus anders als in der katholischen Kirche keinen Papst und weder eine übergreifende Glaubenskongregation noch ein verbindliches Dogmenkonzil gibt, sind es die einzelnen buddhistischen Schulen, wo über die großen Glaubensfragen letztgültige Bestimmungen formuliert werden. Und hier treffen wir auf eine ziemliche Vielfalt: Gegen die Rationalität der frühen Lehren stehen beispielsweise die Paradieswelten und der „Glaubensbuddhismus“ der Reinen-Land-Schule oder der Tantrismus mit seinem Götterhimmel, den Guru-Kulten und Erotisierungen der Lehre.
Was vielleicht noch schwerer wiegt, sind die Differenzen in ethischen Fragen, so zum Beispiel die Legitimation militärischer Gewalt durch japanische Zen-Meister im Zweiten Weltkrieg. Das strikte Gebot des Nichttötens im frühen Buddhismus weicht im späteren Mahayana einer relativierenden Ethik, die das Töten aus „edlen Motiven“ gutheißt. Ähnliches gilt für die buddhistische „Sexualmoral“, die strenge altbuddhistische Askese weicht Jahrhunderte später der tantrischen Sublimierungserotik und das Zölibat der Ordinierten im japanischen Zen der Priesterehe. Bekenntnis und gelebte Wirklichkeit gehen dabei oft weit auseinander.
Authentizität als Kunstprodukt
Je nach buddhistischer Gruppierung lassen sich drei verschiedene Authentizitätsszenarien identifizieren, die den Suchenden überzeugen sollen: Da ist erstens der Verweis auf die eigene, strenge und alleinige Auslegung von Pali-Texten, zweitens die Existenz von Tulkus als charismatische Repräsentanten des lebendigen Dharma und schließlich drittens die Bezugnahme auf eine lange Linienhaltertradition, die letztlich auf den Buddha selbst zurückgehe.
Theravadins lassen ausschließlich den Pali-Kanon gelten und verweisen das meiste, was den frühen Lehren nicht entspricht, ins Reich der Häresien. Die Vajrayana-Buddhisten konzentrieren ihre religiöse Praxis dagegen auf den Guru als „lebenden Buddha“. Er verkörpere die Authentizität der Lehre gesegnet durch die Weihen höherer Welten. Der Adept soll ihn vor jeder Meditation über seinem Haupt visualisieren und seine Zuflucht zu ihm nehmen. Große tantrische Segnungen würden so über den Adepten kommen. Wem der frühe Buddhismus zu asketisch und weltverneinend erscheint oder wer den tantrischen Mythologien nichts abgewinnen kann, mag seine geistige Heimat vielleicht bei den Zen-Buddhisten finden. Hier wird neben einer Rhetorik der unmittelbaren Erfahrung vor allem ein Linienhaltersystem präsentiert, das Authentizität verbürgen soll. Am Anfang des Zen habe die berühmte „Blumendemonstration“ des Buddha gestanden, mit der eine Tradition der „Übertragung von Herz zu Herz“ beginne, die bis heute ungebrochen sei.
Machtanspruch und reine Glaubenssache
Doch keine dieser drei Legitimationsstrategien ist wissenschaftlich belegbar. So ist zum Beispiel die Existenz der 28 Linienhalter des Zen im alten Indien als direkte Vermittler der „Blumendemonstration“ in keiner Weise verbürgt, und selbst das historische Dasein von Bodhidharma, dem ersten Geistträger dieser Tradition in China – und damit auch Urahn des japanischen Zen –, wird von Historikern infrage gestellt. Bernard Faure hat in seiner 1993 erschienenen, sehr intelligenten Untersuchung über das Linienhaltersystem, „Chan Insights and Oversights“, gezeigt, dass dieses System vor allem dem Zweck der Ausübung dogmatischer Gewalt und klösterlicher Existenzabsicherung diente. Oft waren die wirklichen Traditionsgründer, so Faure, nicht jene, die in den Büchern genannt werden, sondern die Meister ein oder zwei Generationen später, die diese idealisierten Gründerfiguren ex-post kreierten, um durch die Überhöhung und Verklärung einer nicht mehr lebenden Heilsgestalt deren Ruhm und Charisma für sich zu nutzen. Neben der Rücksichtnahme auf massenreligiöse Bedürfnisse sind Machtinteressen und das Bestreben nach institutioneller Absicherung die entscheidenden Bestimmungsmomente zur Definition von Authentizität. Ohne die Proklamation eigener Heilssuperiorität würden sich die Anhänger womöglich anderen Gruppen zuwenden.
Der Authentizitätsmythos des Vajrayana-Buddhisten steht und fällt dagegen mit der Anerkennung der Realität eines überweltlichen Verkündungsgeschehens und der Präsenz jenseitiger Meister – ist also reine Glaubenssache. Bei den Theravadins aber beruht alles auf der Annahme einer Übereinstimmung von kanonischem und vorkanonischem Buddhismus, also dem Vertrauen darin, dass – anders als bei der stillen Post – die Memorisierungsfähigkeiten der alten Inder so hervorragend waren, dass sie mündliche Texte über Jahrhunderte fehlerfrei zu bewahren und weiterzugeben vermochten.
Ist Authentizität wirklich so wichtig?
Am Ende ist der Suchende doch wieder ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Außer der Weisheit, die er in sich selbst entdeckt, findet er keine sichere Stütze im Leben. Text- und dogmenkritisch orientierte Buddhisten sind gerade erst dabei, sich die Vielfalt und komplexe Tradition ihrer Religion zu erschließen und dabei tatsächliche Unterschiede zwischen den Schulen zu erkennen, statt einfach zu glauben, was ihnen die jeweiligen Traditionshüter über die Überlegenheit der eigenen und die Schwächen der konkurrierenden Richtungen kundtun. Es spricht daher nicht allzu viel dafür, allein in der eigenen Gruppe den Gipfel an Wahrheit und Authentizität zu verorten. Ein unverzichtbares Kriterium für Authentizität ist letztlich das, was der Begriff selbst bedeutet, nämlich „echt“ oder „unverfälscht“. Dabei kann moralisch völlig danebenhauender Buddhismus keiner sein. Religion ohne ethisch-moralischen Gehalt endet oft in Egotrips, Elend und Korruption. Der Aufstieg und Fall der Osho-Gemeinde des Bhagwan Shree Rajneesh ist dafür ein ebenso anschauliches Beispiel wie die gestrauchelten Gurus von Rigpa, Shambala und Co. Mit Blick auf den Beitrag des Dharma für die Lösung der Probleme einer komplexen globalen Lebenswelt ist ethisches Verhalten letztlich viel wichtiger als die Frage, ob man an Wiedergeburt glaubt, ob das Tantra originärer Teil des Buddhismus oder ein Import aus dem Himalaja-Schamanismus ist, oder die Erleuchtung sich plötzlich oder allmählich einzustellen hat.
Authentizität muss immer wieder neu definiert werden.Neben der ethischen Dimension liefert auch die heutige fachwissenschaftliche Forschung zum Thema authentischer Buddhismus oft zuverlässigere Ergebnisse als die von bloßen Innensichten und Machtinteressen geprägten Darstellungen mancher Repräsentanten der einzelnen Schulen.
Wie im frühen 20. Jahrhundert in den Grotten bei Dunhuang, so tauchen auch heute immer wieder jahrhundertelang verschüttete Texte auf. Neue Methoden
der Textarbeit erlauben es, sie zu entschlüsseln. Dabei geht es zum Beispiel um die Fragen, was wichtiger sei, die Urheberschaft einer Lehrrede oder deren Qualität und Funktion im Kontext der Lehrverbreitung. Gründet sich Authentizität vornehmlich auf sakrale Texte oder die Autorität anerkannter Repräsentanten des Heiligen?
In aufgeklärten Gesellschaften dürfen Wissen und Information nicht weniger zählen als Tradition und die Respektabilität von Glaubensautoritäten. Traditionsbuddhisten sind nicht per se authentischer als Neo-Buddhisten vom Schlage der Säkularisierten oder Ökosattvas. Authentizität ist so nichts Gesetztes, sondern etwas, was sich im innerbuddhistischen Dialog und auch im Austausch zwischen Buddhisten und Wissenschaftler immer wieder neu definiert.
Echte Diskurse müssen herrschaftsfrei und ergebnisoffen sein. Was der Buddhismus im Westen dringend braucht, ist eine Kultur des Umgangs mit Widersprüchen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 117: „Meditation"
Glossar zum Text
Bodhidharma: Ein aus Indien oder Parthien stammender Mönch (?–528), der zu Beginn des 6. Jahrhundert n. u. Z. die buddhistische Lehre in China verbreitet haben soll. Er gilt als Begründer der chinesischen Chan- bzw. Zen-Tradition.
Bodhisattva gilt im Buddhismus als ein Wesen, das den Zustand der vollkommenen Erleuchtung erlangt hat und ins Nirvana eintreten könnte, diesen Eintritt jedoch verschiebt,
um anderen Wesen den Weg dorthin zu weisen.
Pali-Kanon ist die in Pali verfasste, älteste zusammenhängend überlieferte Sammlung von Lehrreden des Buddha Shakyamuni. Die Verschriftung der Buddha-Worte zum Pali-Kanon erfolgte jedoch erst mehrere Jahrhunderte nach dessen Tod.
Reine-Land-Schule ist auf der Verehrung des Buddha Amitabha fokussiert. Sie ist die größte der buddhistischen Schulen und gründet sich auf der Vorstellung eines Reinen Landes, in das der Praktizierende nach seinem Tod gelangen kann.
Tantrismus, wörtl. „Gewebe, Kontinuum, Zusammenhang“, ist eine esoterische Philosophie und religiöse Übungspraxis der Hindu-Religionen, die später auch die Mahayana-
Tradition beeinflusste und dort in Form des Vajrayana eine eigene Richtung bildet. Im Mittelpunkt steht die Verehrung von Gottheiten, um in deren Energieströme einzutreten.
Theravada ist eine Bezeichnung für den frühen Buddhismus, wie er sich nach der Verkündung der Lehre durch Shakyamuni in den südostasiatischen Ländern ausgebreitet und bis heute erhalten hat.
Tulku ist die Bezeichnung für einen wiedergeborenen Meister im tibetischen Buddhismus. Dazu gehört der die religiöse Machtkontinuität sichernde Brauch, ein Kind als die Wiedergeburt eines bekannten buddhistischen Meisters nach dessen Tod aufzuspüren und als dessen Wiedergeburt zu identifizieren.
Vajrayana, das Diamantene Fahrzeug, ist ein Oberbegriff für die tantrischen Schulen.
Hans-Günter Wagner ist ein traditionsübergreifender Buddhist. Er war fünfzehn Jahre in China beruflich tätig und studierte dort den chinesischen Buddhismus. Heute ist er Chinesisch-Lehrer und Übersetzer buddhistischer Prosa- und Lyrikwerke.
Bilder © Unsplash
wäre es doch nur folgerichtig, sich jetzt von den unheilsamen Dogmen und
Aberglauben , wie , Wiedergeburten, Göttern , Dämonen , Höllenhunden, Gespenstern , Orakeln, Gurus, Jenseitswelten , Esoterik, Mystik, Irrationales, Nebulöses, unsinnigen Ritualen , leeren Zeremonien , übernatürlichen Kräften , Frauenunterdrückungen usw. zu befreien.
Es ist nicht unbuddhistisch, Missstände, Dogmen und Aberglaubensüberlieferungen im Buddhismus zu kritisieren und in Frage zustellen.
26oo Jahre nach Buddhas ableben, sollten Buddhisten die überlieferten buddhistischen Weisheiten auf ihre Wirkung und Tauglichkeit hin, auf die gegenwärtige Lebensrealität überprüfen.
Mit freundlichen, aberglaubensfreien, heilsamen,buddhistischen Grüßen
Uwe Meisenbacher
Was versteht man unter Authentizität?
wäre es doch nur folgerichtig, sich jetzt von den unheilsamen Dogmen und
Aberglauben , wie , Wiedergeburten, Göttern , Dämonen , Höllenhunden, Gespenstern , Orakeln, Gurus, Jenseitswelten , Esoterik, Mystik, Irrationales, Nebulöses, unsinnigen Ritualen , leeren Zeremonien , übernatürlichen Kräften , Frauenunterdrückungen usw. zu befreien.
Es ist nicht unbuddhistisch, Missstände, Dogmen und Aberglaubensüberlieferungen im Buddhismus zu kritisieren und in Frage zustellen.
26oo Jahre nach Buddhas ableben, sollten Buddhisten die überlieferten buddhistischen Weisheiten auf ihre Wirkung und Tauglichkeit hin, auf die gegenwärtige Lebensrealität überprüfen.
Mit freundlichen, aberglaubensfreien, heilsamen,buddhistischen Grüßen
Uwe Meisenbacher