Religion oder Lebensphilosophie – eine genaue Betrachtung des Zen.
Im Laufe der buddhistischen Geschichte bildete sich eine Tradition namens Zen (im chinesischen „Chan“) heraus. Da Religion unter anderem ein Beachten von Vorschriften erfordert, halten einige Zen nicht für eine Religion, ja nicht einmal mehr für Buddhismus. Eine solche Auffassung ergibt Sinn, wenn man dem Zen seine noch immer üblichen Rituale und buddhistischen Glaubenssätze tatsächlich entzieht. Im Folgenden soll exemplarisch aufgezeigt werden, dass dieser Weg von Anfang an im Zen angelegt war und es damit zu einer kulturübergreifenden Lebensphilosophie werden lässt.
In seinem Klassiker „Grundzüge der buddhistischen Philosophie“ schrieb der japanische Buddhologe Junjiro Takakusu (1866–1945): „Dem Zen zufolge ist das Wissen um die moralische Disziplin ursprünglich in der menschlichen Natur vorhanden.“ Dies deckt sich mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass bereits Babys Empathie und Mitfreude empfinden können, zwei der grundlegenden buddhistischen Tugenden – in Sanskrit brahmaviharas. Mit dieser Ansicht hat man ein logisches Problem des buddhistischen Pali-Kanons aufgelöst, nach dem ein „Achtfacher Pfad“ der Tugend zu gehen sei, um zu erwachen.
Denn Buddha, der diesen Pfad lehrte, betrat selbst erst einige Irrwege, etwa den der strengen Askese, ehe er zu dieser Ansicht gelangte. Die Erkenntnis und Ausformulierung eines ethischen Pfades geschahen also erst nach seiner Erleuchtung. Offensichtlich muss es also möglich sein, von Natur aus moralisch einwandfrei zu handeln beziehungsweise trotz Irrtümern und Fehltritten und ohne Wissen eines solchen edlen Pfades zum Erwachen zu gelangen. Kaiten Nukariya, Mönch und Professor für Buddhismus innerhalb der japanischen Soto-Schule (1867–1934), drückte es so aus: „Je höher der Gipfel der Erleuchtung erklommen wurde, desto weiter wird die Aussicht auf die Möglichkeiten moralischen Handelns.“
Im Zen kristallisierte sich nach und nach statt einer dreifachen Übung zunächst ein Duo aus Meditation als hauptsächliche Praxis und Weisheit und als deren Ausdruck oder Ergebnis heraus. Da der Zen-Übende nicht an Schriften haften soll und in der Meditation lernt, auch nicht an Gedanken und Konzepten zu hängen, sollte ihn das Grübeln über Regeln und deren Einhalten gerade nicht umtreiben. Hier zeigt sich ein großes Vertrauen in die natürliche Fähigkeit des Menschen zum moralischen Handeln und in eine Vertiefung desselbigen durch das „Erwachen“.
Leidhaft als Leitmotiv
Auch andere Kennzeichen einer Religion werden im Zen als „künstliches Handeln“ bezeichnet. Allem, was verbindlich in Worte gegossen war, stand das Zen in seiner Geschichte skeptisch gegenüber. Dies muss selbst für die „Edlen Wahrheiten vom Leiden“ gelten. Schon in der Erläuterung, Geburt, Altern, Krankheit und Tod seien leidhaft, findet sich eine perspektivische Verzerrung, da ja nur die letztgenannten drei von einer Person mit Ich-Bewusstsein erfahren werden, die Geburt also vom in die Welt kommenden Menschen gar nicht bewusst als leidhaft erfahren wird.
Aus Zen-Sicht bindet sich jemand unnötig an Worte, wenn er die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad zur Aufhebung des Leidens für den Kern des Buddhismus hält. Im späteren Buddhismus hingegen ist die dritte der Edlen Wahrheiten, das Erlöschen des Leidens, von zentraler Bedeutung. Wir lesen im Shrimala-Sutra – das eine Königin dem Buddha vorgetragen und das dieser bestätigt haben soll – von dieser „Einen Wahrheit“, die beständig, wahr und eine Zuflucht sei, während die anderen drei Wahrheiten einen unbeständigen Charakter hätten. Wörtlich heißt es da: „Die Edlen Wahrheiten des Leidens, der Ursachen des Leidens und des Weges zu seiner Auflösung (das heißt der Achtfache Pfad) sind tatsächlich unwahr, unbeständig und keine Zuflucht.“ Es geht also nur um eines: Das Erlöschen des Leidens, das im Sanskrit dukkha heißt. Hier kann sinnvollerweise nur die gewöhnliche, zum Beispiel lamentierende Einstellung zum Leiden und Schmerz gemeint sein, die wir durch geistige Übung verwandeln können. Auch ein Buddhist ändert ansonsten nichts an seiner Geburt, dem Krankwerden, Altern und Tod. Überwindbar ist nur das Ausmaß des Leidens am Leiden.
Eine weitere als unabdingbar für den Buddhismus angesehene Lehre ist die vom Karma und bedingten Entstehen. In einer unsäglichen, für den Buddhismus-Unterricht an deutschen Schulen publizierten Schrift heißt es: „Zum Beispiel wird eine Handlung, die von Hass motiviert ist, eine Wiedergeburt in den Höllen verursachen (…) Diebstahl kann (…) eine Wiedergeburt in Gegenden verursachen, die von Hungersnöten heimgesucht werden (…).
Gemäß der buddhistischen Schriften verursachen Handlungen bestimmte karmische Auswirkungen. Zum Beispiel führt Niederträchtigkeit dazu, arm zu sein (...) das Retten von Leben führt dazu, ein langes Leben zu haben.“ Solch primitive Vorstellungen von einem gerechten Ausgleich guter und schlechter Handlungen legen nahe, dass es eine Wiedergeburt geben wird, wodurch dieselbe Person die Quittung für ihre früheren Taten bekommt.
Im frühen Zen erkannte man jedoch, dass das Karma durch entsprechende gedankliche Vorbehalte entsteht und letztlich genauso wenig existent wie alles andere ist, sondern von einer „leeren“ Natur entstammt. Man befreit sich vom Karma also auch dadurch, dass man sich von dem Konzept des Karma selbst lossagt. Es steht in unmittelbarer Verbindung zur „Zwölfgliedrigen Kette des Entstehens“, der Vorstellung vom Entstehen in Abhängigkeit.
Der Buddhologe Edward Conze (1904–1974) vermutete, dass es sich ursprünglich bei dieser Kette nur um acht Glieder gehandelt haben dürfte, „vier der Kettenglieder fehlen (…), die der Seelenwanderung des Individuums sozusagen Körperhaftigkeit geben und das Los des wandernden Organismus beschreiben. Es scheint daher keineswegs ausgeschlossen, dass dieser Lehrsatz ursprünglich nichts mit der Frage der Wiedergeburt zu tun hatte.“
Von daher ist also mit Blick auf die frühesten buddhistischen Quellen sogar eine Lehre ohne Wiedergeburt, also ohne Wiederwerden oder gar „Seelenwanderung“ denkbar. Es bleibt die den Menschen im Allgemeinen zugängliche, recht banale Erkenntnis, dass Taten Konsequenzen haben können. Meister Lin-chi (gest. 866) behauptete einmal gar, wer die sechs Haupttugenden praktiziere, schaffe so nur Karma. Der Buddhismusforscher Youru Wang sieht in dieser Aufhebung des Unterschieds zwischen gutem und schlechtem Karma die Voraussetzung für das Entfalten vollen ethischen Potenzials, des „Trans-Ethischen“ oder „Para-Ethischen“. Der heute wieder gern gelesene Dogen Zenji (1200–1251) kommentierte einst trocken: „Was ist das schlimmste Karma? Es ist, Kot oder Urin auszuscheiden. Was ist dann das beste Karma? Es ist, früh am Morgen Haferschleim zu essen und mittags Reis, am frühen Abend Zazen (Sitzmeditation) zu machen und um Mitternacht schlafen zu gehen.“
Sitzen als Haltung
Schon bei Shen-hsiu (606?-706), einem der einflussreichsten Chan-Meister seiner Zeit, heißt es: „Betrachte nicht den Geist, meditiere nicht, kontempliere nicht und unterbrich den Geist nicht, sondern lass ihn einfach fließen.“ Auch Sitzmeditation war also nicht über Kritik erhaben. Awa Kenzo (1880–1939), Meister des Bogenschießens, sagte: „In Wirklichkeit ist die Übung unabhängig von jeder Körperhaltung.“ Dabei ist das japanische Bogenschießen ebenso ritualisiert und formgebunden wie die Zen-Meditation. Meister Hakuin (1686–1769) wies in dieselbe Richtung: „Die Zen-Übung, die man innerhalb seiner Handlungen vollzieht, ist derjenigen, die man in der Stille praktiziert, millionenfach überlegen.“ Einige Lehrer haben also bereits auf die erwachte Haltung eines Adepten hingewiesen, in der nicht mehr der still-passive Rückzug in eine fixe Körperhaltung, sondern das aktive Handeln – im Geiste einer solchen Haltung, also mit der Fähigkeit, an keinem Phänomen und keinem Gedanken zu haften – im Vordergrund steht.
Im Gegensatz dazu hält die heute populäre Zen-Linie von Dogen Zenji sich an dessen Credo, dass alle Meister durch jene Sitzmeditation, das Zazen, erwacht seien und dieses kein Mittel zum Zweck, sondern Erleuchtung selbst darstelle, auf Japanisch shûsho-itto. Das Problem dieser momentan dominanten Auffassung des Zen ist, dass eines unter vielen „geschickten Mitteln“ in Sanskrit upaya, der buddhistischen Lehre als pars pro toto steht und folglich nicht von ihm gelassen werden kann.
Derselbe Lehrer versteifte sich auch auf andere Thesen, etwa die, dass das Mönchstum dem Laientum überlegen sei. Damit entfernte er sich von der Überlieferung des „Sechsten Patriarchen“ Huineng, der den Mönchsstatus als bedeutungslos ansah, da nur die Praxis zähle – womit er die reine Geistesschulung des nicht anhaftenden, nicht wertenden Denkens meinte und nicht auf das Sitzen als Form abhob: „In dieser meiner Lehre bedeutet ‚Sitzen‘, überall ohne Hindernis zu sein und unter allen Umständen keine Gedanken zu aktivieren.“ Zwar sah auch Dogen in ethischem Verhalten eine Folge des Erwachens, jedoch die Gebote schon im Zazen selbst verwirklicht, da ein sich seiner Gedanken Bewusster, der regelgemäß in Versenkung saß, nicht gegen die Regeln verstoßen könne, was einen sophistischen Beigeschmack hat.
Erst in jüngeren akademischen Arbeiten wird der Irrtum vieler Praktizierender aufgeklärt: Dogen habe Sitzen auf mehrere Weisen begriffen, als körperliches wie auch als „geistiges Sitzen“, das in jeder Haltung möglich sei; erst wenn der Übende weder an körperlichen noch geistigen Phänomenen hänge, sei er befreit und – ein berühmtes Zitat Dogens – „Körper und Geist abgefallen“. In einer solchen Versöhnung von Huinengs und Dogens Ansicht besteht eine weitere Chance, Zen aus einem formalen Korsett zu lösen und – ohne Verweise auf religiösen Überbau – als Geistestraining zugänglich zu machen.
Zen wurde in den letzten Jahrzehnten von etlichen Skandalen erschüttert, allen voran Vorwürfe sexueller Übergriffe und illegitimer Bereicherung von Lehrern. Die schiere Unmöglichkeit, in eine etablierte Zen-Linie aufgenommen zu werden und einmal selbst den Meisterstatus zu erlangen, wenn man sich nicht zeitweise selbst einem Lehrer unterwirft, lässt die übenden Gemeinschaften oft zu solchem Fehlverhalten schweigen. Deshalb ist hier die Frage zu stellen, ob nicht das Zen in seiner Geschichte – so wie es bisher gezeigt hat, seine eigenen Regeln und selbst die Meditation nicht als unabdingbar darstellte – vielleicht auch die Abhängigkeit vom Meister längst gestellt hat.
Und in der Tat, hierfür gibt es hinreichende Belege. Laut Tenkei Denson (1648–1735) war nicht die Übung bei einem Meister ausschlaggebend, sondern die Erlangung der Erleuchtungserfahrung, die auf mannigfache Weise angeregt sein kann. Das Siegel der Erleuchtung sei das Selbst. In der Begegnung des Selbst mit dem „ursprünglichen Antlitz“ des Selbst werde die Erleuchtung erfasst. Das gesamte Universum könne diese Intuition bewirken, in der Berührung mit Sonne, Mond und Sternen, mit Bäumen oder Gras der Mensch sein Selbst erfassen, im Selbst des wahren Dharma – der wahren Lehre – inne werden. Dies könne mithilfe eines Meisters geschehen, aber auch in ureigenster Erfahrung. „Selbstbewirkt ist Befreiung nicht das Geschenk eines Lehrers. Ich habe mich bei meiner Übung nicht der Fürsorge eines Lehrers anvertraut. Entschlossen, allein voranzuschreiten, habe ich keinen Begleiter.“ So spricht gar ein „König Langleben“ in seinem Sutra. Enni Ben’nen (1202–1280), ein Zeitgenosse Dogens aus der Konkurrenzlinie des Lin-chi, sah den Begründer des Zen, Bodhidharma, als Selbsterwachten an. Das Gleiche muss man von Shakyamuni Buddha behaupten.
Wir können festhalten, dass Zen schon in der frühesten Entwicklungsphase seine eigenen Wurzeln im Buddhismus dekonstruierte. Durch seine Skepsis gegenüber Worten und seine Übungsmethode des Nichtanhaftens an Gedanken wurde nicht nur die Nachrangigkeit von Geboten und einem Achtfachen Pfad nahegelegt, sondern auch jegliches Konzept vom Karma bis hin zum bedingten Entstehen infrage gestellt. Schließlich wurde selbst die Sitzmeditation als „geschicktes Mittel“ aufgefasst und somit Buddhismus beziehungsweise Zen nur noch als reine Geistesübung des vollständigen Loslassens und als Bewusstsein der Leere aller Phänomene begriffen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 114: „Balance finden"
So ist es möglich, dass sich heute die Kernlehre des Zen ohne jegliche Dogmen und Äußerlichkeiten wie Roben und Rituale verwirklicht, indem der Übende den angestrebten Geisteszustand bei seinen Alltagshandlungen aufrechterhält und in jedem gegenwärtigen Moment neu manifestiert, wobei er zentrale Tugenden wie die Gebefreudigkeit verwirklicht. Diese Fähigkeit kann er sich sogar selbst aneignen, denn ein Meister ist nicht zwingend erforderlich. Aber es bleibt die Frage, ob ein solches Zen ohne religiöses Korsett, also etwa auch ohne Zeremonien und Rezitationen wie bei Totenfeiern, das Bedürfnis der Menschen nach Trost befriedigen kann.
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