Das Ego und das Erleben als physikalische Prozesse in Gehirn. Wie geht dies mit der buddhistischen Theorie „Anatta“ zusammen?
Neurowissenschaftliche Bewusstseinstheorien beruhen auf einer naturalistischen Auffassung von Bewusstsein beziehungsweise Erleben. Sie verorten geistige Eigenschaften nicht in einer übernatürlichen Seele und auch nicht in einer von materiellen Eigenschaften unabhängigen geistigen Entität, sondern in den physikalischen Prozessen, die in einem höher entwickelten Gehirn, vielleicht auch einmal in einer künstlichen Intelligenz ablaufen. In seinem Buch „Der Ego-Tunnel“ weist der Mainzer Geistphilosoph Thomas Metzinger darauf hin, dass es „das Selbst“ in Wirklichkeit gar nicht gibt, sondern dass subjektives Erleben, der sogenannte Ego-Tunnel, ein biologisches Datenformat ist, das vom Gehirn erzeugt wird. Die Art der Strukturierung und Funktionsweise des zentralen Nervensystems sorgt dafür, dass Repräsentationen von der „Außenwelt“ und des „Egos“ entstehen.
Eine Idee, wie genau vielleicht Bewusstsein beziehungsweise Erleben in einem neuralen, aber theoretisch auch durchaus anders gearteten informationsverarbeitenden Netzwerk, etwa in einem Computer, entstehen könnte, liefert unter anderem der Psychiater und Bewusstseinsforscher Giulio Tononi mit seiner „Theorie der Integrierten Information des Bewusstseins“. Seiner Theorie nach muss genügend Information in einem biologischen oder auch nichtbiologischen System vorhanden sein, und diese Informationsfülle muss integriert sein. Erwähnenswert hierzu sind zudem Hypothesen, die Bewusstsein als ein elektromagnetisches Phänomen ansehen, „CEMI-Feld-Theorie“, „Conscious electromagnetic information field theory“. Die Neurophysiologin Susan Pockett schreibt in ihrer Arbeit „The Nature of Consciousness”: „Bewusstsein ist identisch mit bestimmten raum-zeitlichen Mustern in einem elektromagnetischen Feld“.
Somit wären alle möglichen Qualia des phänomenalen Bewusstseins in der physikalischen Grundkraft der elektromagnetischen Wechselwirkung implementiert. Johnjoe McFadden, Biologe und Molekulargenetiker, stellt in seiner letzten Publikation einen Bezug zwischen Tononis Theorie der Integrierten Information des Bewusstseins und der von ihm auch selbst postulierten CEMI-Feld-Theorie her und sieht in der Feldwirkung elektromagnetischer Wechselwirkungsprozesse einen räumlichen integrativen Faktor von Informationen.
Wie kann man sich das alles vorstellen?
Nervenzellen haben – vereinfacht gesprochen – die Eigenschaft, elektrische Ladungsträger, Ionen, entlang von Membranen in Plus und Minus zu trennen und dadurch elektrische Ladungsdifferenzen zu erzeugen. Diese Ladungsdifferenzen bewirken somit elektrische informative Kontrastierungen. Darüber hinaus können Neuronen diese Membranpotenziale äußerst schnell umkehren und dadurch elektrische Impulse weiterleiten. An den Verbindungsstellen, den Synapsen, finden elektrochemische Prozesse statt, die solche elektrischen Informationsweiterleitungen regulieren und modulieren können, was für die Dynamik des Bewusstseins oder Erlebens unerlässlich ist. Stellen wir uns eine Kochsalzlösung vor: Hier schwirren die Ladungsträger, Anionen und Kationen, diffus umher, ohne dass komplexere elektrische Kontrastierungen entstehen. Diese Elektrolytsuppe würde, wenn man die Ladungen farblich schwarz und weiß in einem Raum darstellen könnte, ein diffuses 3-D-Flimmerbild ohne komplexe Kontrastierungen ergeben. Der Informationsgehalt ist mangels Komplexität überall niedrig, da überall Unschärfe trotz der Vielzahl von unterschiedlich geladenen Ionen herrscht. Diese diffuse Elektrolytlösung entspricht am ehesten einem toten Gehirn, es finden keine elektrischen Ladungstrennungen und somit keine elektrische Kontrastierung statt. Der Informationsgehalt geht hier gemäß Tononis Informationstheorie gegen null: Bewusstseinsverlust.
Nehmen wir nun das andere Extrem: Alle Ionen werden ähnlich wie bei einem elektrischen Plattenkondensator zur Hälfte in positive und negative Ladungen aufgetrennt. Dies bedeutet zwar den stärksten elektrischen Kontrast, aber auch den gröbsten von allen Möglichkeiten. Hier sind ebenso keinerlei komplexe Differenzierungen vorhanden. Solche vergröberten elektrischen Polaritäten treten bei epileptischen Anfällen, aber auch in der Tiefschlafphase, dem Non-REM-Schlaf, auf. Der Informationsgehalt nimmt dort ab – und damit auch das bewusste Erleben. Halten wir also fest: Sowohl Unschärfe von elektrischen Ladungsverteilungen als auch zu starke homogene Kontrastierungen derselben bringen Informationsverlust mit sich und damit Bewusstseinsverlust. Echter Tiefschlaf oder Koma ist nicht erlebbar. Man erlebt lediglich die Vorphase und die Nachphase.
Was zeichnet nun die elektrischen Hirnzustände während des Erlebens und des Träumens im REM-Schlaf aus?
Die elektrischen Ladungsträger müssen – wiederum vereinfacht gesprochen – eine Dynamik von mannigfaltigen, aber integrierten komplexen Mustern ausbilden, welche zwischen den Extremen einer zu homogenen Kontrastierung und diffuser Unschärfe liegt. Für diese Voraussetzungen braucht es eine Architektur, wie sie unter anderem höher entwickelte Säugetiergroßhirne aufweisen. McFadden weist zudem darauf hin, dass das neuronale Netzwerk des Großhirns sich nicht nur durch elektrochemische Verkabelungen auszeichnet, den Neuronen mit Synapsen, sondern dass darüber hinaus Neuronen untereinander mittels elektromagnetischer Feldwirkungen über weitere Entfernungen innerhalb des Großhirns gleichsam kabellos Wechselwirkung zeigen und dadurch ein integrierendes elektromagnetisches Bewusstseinsfeld konstituieren. McFaddens These, dass das elektromagnetische Gesamtfeld des Bewusstseins eine gewisse, jedoch fragile, subjektive Eigenständigkeit gewinnt, könnte naturalistische Modelle des Bewusstseins vom Vorwurf eines starken maschinellen Determinismus, Menschen werden auf Bio-Automaten reduziert, befreien und neue Denkanstöße in der philosophischen Diskussion um einen freien Willen liefern.
Worin besteht nun der Bezug zu „Anatta“, der buddhistischen Vorstellung, dass nichts Seiendes, also auch kein Mensch, einen festen, unveränderlichen und unabhängigen Wesenskern, ein unveränderliches Ich, besitze? In diesen hier kurz angerissenen Bewusstseinstheorien wird Bewusstsein oder geistiges Erleben als ein vorerst allgemeines Naturphänomen beschrieben, das aus dem Zusammenwirken von genuin unpersönlichen Komponenten hervorgeht. Dies erinnert stark an Buddhas Lehre von den Skandhas. Die molekularen Bestandteile neuronaler Netze und insbesondere die elektrischen Ladungsträger, Ionen, selbst werden bereits während eines individuellen biologischen Lebens ständig erneuert. Daher besitzen die Lebewesen keine eigenen residenten Bestandteile, die den Geist hervorbringen. Der Mensch besitzt nicht nur keinen seelischen, sondern auch keinen eigenen materiellen Wesenskern. Erst die zentriert auftretenden dynamischen Wechselwirkungen der elektrischen Ladungsträger beziehungsweise der elektrischen Feldmuster lassen individuelle Erlebniseindrücke von Person und eigenem Selbst bei höheren Spezies entstehen. Diese Eigenschaft des Subjektivitätserlebens manifestiert sich zwar erst mit zunehmender Komplexität der physikalischen Prozesse und tritt abgegrenzt voneinander in vielen einzelnen Subjektivitätsinseln in Erscheinung, aber der Ursprung ist nicht das Individuum selbst, kein originäres Ich.
„Bewusstsein ist das, was jede Nacht verschwindet, sobald wir in einen traumlosen Schlaf fallen, und wiederkommt, sobald wir aufwachen oder träumen. So gesehen ist der Begriff Bewusstsein synonym mit Erleben.“ (Giulio Tononi)
Widerlegen solche Theorien die Möglichkeit einer eventuellen Weiterexistenz nach dem Tod und damit den Glauben an Karma und Wiedergeburt? Materialistischen Theorien wird nicht selten Vernichtungsglaube, ein Nihilismus, vorgehalten. Nicht zwangsläufig! Aber sie legen eine andere Schlussfolgerung nahe, als es die traditionelle Anschauung vorsieht: Wenn geistiges Erleben auf dynamischen, elektromagnetisch integrierten Informationsmustern beruht, dann dürfte es im Tod keine Beendigung von Erleben geben, weil die geistigen Grundkräfte in ihrer Entstehung nicht persönlicher oder individueller Natur sind. Subjektivitätserleben entsteht sozusagen immer wieder von unten aus der geistfähigen, austauschbaren Materie, die keinem Wesen individuell gehört. Für ein Wesen endet demnach das Subjektiverleben nicht in einer Sackgasse, sondern die allgemeine Erlebnisfähigkeit der Materie setzt sich – allerdings individuell voneinander getrennt und zentrisch wahrnehmend – in den verbliebenen und neu entstehenden Subjektivitätsinseln fort, jedoch ohne, dass irgendetwas an Substanz oder auch an individueller Information von den verstorbenen Wesen sozusagen hinüberwandert. Man darf bei der Vorstellung dieses Mechanismus nicht individuell-seriell denken.
Wenn es beispielsweise nur noch zwei Gehirne auf der Welt gäbe, zwei Wesen, die sich sogar kennen, und eines davon verstirbt, dann endet Bewusstsein nicht in einer Sackgasse oder in einem statischen Nichtszustand, da das manifeste Subjektivitätsempfinden des Verbliebenen ja noch da ist. Es ist von der unpersönlichen Grundeigenschaft her betrachtet dasselbe Bewusstsein wie das des anderen – Bewusstsein gehört keinem Wesen –, es ist dieselbe Elektrizität. Wenn das eine Wesen gestorben ist, darf man es, gerade weil es informativ desintegriert ist, nicht weiter als zentrisch empfindende Bezugsstelle zu dem anderen Wesen setzen: „Ich bin tot, nur noch das andere Wesen lebt und erlebt weiter.“ So findet auch für das verstorbene Wesen erlebende Fortexistenz statt, nämlich die der letzten verbliebenen Subjektivitätsinsel, in der die letzte Manifestation von Bewusstsein aus dem allgemeinen Protobewusstsein, die geistfähige Materie allgemein, stattfindet. Nach einem solchen Modell gäbe es demnach keine individuell beeinflussbaren, eigenen Wiedergeburten, da es keine von Materie unabhängigen Geistkontinua gibt, welche individuelle Karmaformationen in nachfolgende Existenzen einprägen könnte. Wir sind jedoch kulturell sehr stark von einem personenhaften Seelenglauben geprägt, sodass wir geneigt sind, die Vorstellung von Bewusstsein hinsichtlich der Entität aus einer eigenständigen Selbst-Sicht abzuleiten: Jeder hat sein eigenes Bewusstsein. Der Einblick in die unpersönlichen physikalischen Prozesse der Bewusstseinsentstehung kann uns helfen, uns selbst nicht abgetrennt von der Natur zu sehen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 119: „Zukunft gestalten"'
Wenn nun Fortexistenz des Subjektivitätserlebens für uns alle stattfindet, aber nicht individuell-isoliert beeinflussbar ist – denn wir stehen nicht über der Natur! –, welche ethischen Konsequenzen hätte dies? Da wir uns theoretisch in nachfolgenden Existenzen unvorhersehbar überall wiederfinden können, ist es wichtig zu erkennen, dass es uns nicht primär um unser eigenes Seelenheil, unser eigenes geistiges Heil, gehen sollte, sondern dass wir uns um unsere Hinterlassenschaften im Environment sorgen müssen, so der Philosoph David R. Loy. Wenn wir in den Welten beispielsweise neunzig Prozent an unheilvollen sozialen und ökologischen Bedingungen hinterlassen und nur zehn Prozent Komfortzone, dann besteht für uns alle ohne Privilegierung eines individuellen Karmas eine neunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, unter solchen unheilvollen Bedingungen Fortexistenz zu erfahren, selbst wenn Einzelne von uns noch so tugendhaft und meditativ Dharma praktizieren. Wenn der Geist von unten aus der Materie entsteht, müssen wir unsere Welt sozial und ökologisch erhalten und nicht primär unser eigenes Seelenheil. Insofern können diese naturalistischen Bewusstseinstheorien Buddhas Lehre einer Fortexistenz ohne Seele in einem neuen Licht erscheinen lassen. Sie weisen darauf hin, dass wir individuell weder Erlösung oder Vollendung noch Auslöschung erfahren, sondern nur gemeinsam als „Ökosattvas“ immer wieder neu an einem sozioökologischen Gleichgewicht innerhalb von Samsara arbeiten können, um das – insbesondere aus dem Egowahn entstehende – Leid möglichst aller fühlenden Wesen zu mindern.
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