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Diskurs

Die Maha-Satipatthāna-Sutta, Buddhas berühmte Lehrrede zur Übung der Achtsamkeit. Der Ausstieg in ein erleuchtetes, etwas weltlicher ausgedrückt, in ein gelingendes Leben erfolgt über die Achtsamkeit auf die Gefühle.

Auszug des fünften Bandes „Das Geheimnis der Achtsamkeit“ aus der Serie „Möge die Übung gelingen“ von Peter Riedl.

Der Ausstieg in ein erleuchtetes, etwas weltlicher ausgedrückt, in ein gelingendes Leben erfolgt über die Achtsamkeit auf die Gefühle. Deshalb kommt dieser zweiten Grundlage der Übung der Achtsamkeit eine besondere Bedeutung zu.

Originaltext des Maha-Satipatthana-Sutta

Die Achtsamkeit auf die Gefühle

Wie nun die Achtsamkeit auf die Gefühle üben?

Ein angenehmes, unangenehmes oder neutrales Gefühl empfindend, wissen, dass ich ein angenehmes, unangenehmes oder neutrales Gefühl empfinde.

 

Übung „Achtsamkeit auf die Gefühle“

  • Sich hinsetzen, die Augen schließen und sich sitzen spüren.
  • Bei sich im Inneren sagen: sitzen, so fühlt sich Sitzen an.
  • Das Gewicht des eigenen Körpers spüren.
  • Gleichzeitig wissen, wie man sich fühlt. Das anwesende Gefühl mit nur drei Qualitäten benennen: angenehm, unangenehm, neutral.
  • Bei sich feststellen, ob man unterscheiden kann, ob man sich körperlich und/oder geistig, angenehm, unangenehm, neutral fühlt.
  • Bei sich feststellen, was man denkt. Den Inhalt der Gedanken kennen und benennen.

 

Die große Bedeutung dieser Übung erschließt sich, wenn man erkennt, dass es diese drei Gefühle sind, angenehm, unangenehm, neutral, die die eigenen Gedanken, Reaktionen und Handlungen verursachen. Wir meinen, wir würden sie bestimmen, in Wahrheit werden sie durch das eigene Fühlen verursacht. Um diese Zusammenhänge zu erkennen, wird in dieser Übung explizit darauf hingewiesen, dass man versuchen soll, den Inhalt der Gedanken zu erkennen und zu benennen, also zu wissen, was man denkt. Der Ablauf des oben beschriebenen Prozesses, der alltäglich fast ununterbrochen neu abläuft, kann an einem einfachen Beispiel verdeutlicht werden: Ich höre die Stimme meines Partners, der mich ärgerlich anschreit, oder sehe sein zorniges Gesicht. Diese Wahrnehmung lässt in mir automatisch, also ohne, dass ich das verhindern kann, ein Gefühl entstehen. Das kann zur Erkenntnis führen:

Die Entstehung eines angenehmen, unangenehmen oder neutralen Gefühls kann nicht verhindert werden.

Erst danach kommt der alles entscheidende Moment, und der hängt davon ab, ob ich dieses Gefühl bewusst spüre oder nicht. Tue ich das nicht, führt ein angenehmes Gefühl dazu, dass ich dessen Ursache haben will, und ein unangenehmes dazu, dass ich dessen Ursache, wie etwa den schreienden Partner, ablehne. Erst wenn ich mir das unangenehme Gefühl, das durch das Angeschrien-Werden entstanden ist, bewusst mache, wird eine Änderung meiner Reaktions- und Handlungsabläufe möglich. Bis dahin ist aufgrund des unangenehmen Gefühls immer sofort Ärger oder Zorn entstanden. Dass das nicht so sein muss, haben wir nicht einmal in Erwägung gezogen. Die Dinge laufen so rasch ab, dass wir gar nicht bemerken, dass hier ein zwar kurzer, aber doch zeitlicher Prozess stattfindet. Mein Partner schreit, ich fühle mich unangenehm, denke: Spinnt der?!, und schreie sofort zurück. Scheinbar erfolgt das gleichzeitig. Das ist aber nicht so. Tatsächlich vergehen zwischen der ersten Wahrnehmung und der darauffolgenden Reaktion mehrere Augenblicke. Das erste, unangenehme Gefühl war noch völlig ungerichtet, es bestand nur in mir, in meinem Körper und/oder in meinem Geist. Erst die aufgrund des entstandenen Gefühls bedingte Reaktion meiner Gedanken, nämlich: Der spinnt wohl?!, richtet die Emotion des Ärgers auf den anderen. Man glaubt, von dort käme der Ärger. Von dort kommt er aber nicht. Er kommt aus einem selbst.

Es ist der oben beschriebene, erstaunlich einfache Mechanismus, der zu Stress führt, anders ausgedrückt, der verhindert, ein gelassenes Leben zu führen.

Jede Wahrnehmung, also jeder Sinneseindruck bedingt automatisch ein Gefühl und dieses die Reaktion. Das ist das ganze Geheimnis! Das Gefühl kann nicht verhindert werden, die unheilsame Reaktion darauf, der Ärger, schon. Man hätte auch heilsam, mit Liebe und Gelassenheit reagieren können. Hier setzt die buddhistische Praxis ein. Sie geht in zwei Richtungen beziehungsweise Methoden. Bei Ersterer macht man sich durch Achtsamkeit das unangenehme Gefühl bewusst und versucht, es möglichst früh zu erkennen. Ist man wirklich bewusst und achtsam, kann das noch vor oder zumindest kurz nach der Entstehung des Ärgers gelingen. In beiden Fällen ist es möglich, den Ärger nicht weiter anwachsen zu lassen oder diesen sogar zu beenden, also fallen zu lassen. Das ist nicht leicht. Im Gegenteil, es ist sogar ziemlich anstrengend.

Im sogenannten Achtfachen Pfad werden die drei Pfeiler der geistigen Praxis genannt: Meditation, Achtsamkeit und Anstrengung. Manche Menschen meditieren über Jahre, rezitieren Mantren und sitzen täglich auf dem Kissen. Solange sie das tun, ist Ruhe im Geist. Stehen sie vom Sitzkissen auf, ärgern sie sich wieder, über die Freundin oder Andersdenkende. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Sie sind nicht genügend achtsam und strengen sich auch nicht in der rechten Weise an. Erst durch Achtsamkeit im gegenwärtigen Augenblick wird einem das entstehende, unangenehme Gefühl bewusst. Das eröffnet die Möglichkeit, nicht wie bisher, auf dieses mit immer gleichen, ablehnenden Verhaltensmustern zu reagieren, sondern unabhängig zu handeln. Das führt in ein völlig neues, nämlich bewusst gestaltetes und somit freies Leben.

Das ist die Essenz der buddhistischen Übung: richtige Sammlung des Geistes, Meditation, richtige Innenschau, Achtsamkeit und eine richtige Form der Anstrengung führen, oft und oft geübt, in die Freiheit. Das Fallen-Lassen negativer Reaktionen, etwa des Ärgers, darf allerdings nicht durch Unterdrückung oder emotionale Abschottung, also durch Gleichgültigkeit erfolgen, auch das sogenannte positive Denken hilft nicht wirklich weiter.

Sutta

Übung „Ärger erkunden“

  • Sich an eine vergangene Situation erinnern, in der man sich geärgert hat.
  • Sich die eigene, ärgerliche Reaktion ganz klar bewusst machen. Hat man geschrien, war man vorwurfsvoll, beleidigt, aggressiv?
  • Wie hat das Gegenüber reagiert? Einsichtsvoll oder seinerseits mit Ärger und Aggression?

Übt man das über längere Zeit, kann es gelingen, dass man sich nie wieder unbewusst und automatisch, obwohl man das eigentlich gar nicht will, ärgert. Das alte, nämlich ein Leben mit der unheilvollen Emotion Ärger endet und ein neues, ohne Ärger beginnt. Auf diese Weise führt der Weg der Achtsamkeit zu „Nirvana“, dem gleichmütigen Leben.

Diese erste Form der oben beschriebenen Übung ist noch mit viel Anstrengung, neben Achtsamkeit und Meditation, dem dritten Pfeiler buddhistischer Praxis, verbunden. Ist einem das gelungen, kommt die zweite Form, die Art der Überwindung negativer Emotionen. Sie ist eigentlich gar keine Übung mehr, sondern deren Ergebnis.

Die Wahrnehmung meines mich anschreienden Partners bedingt zwar immer noch ein Gefühl, das kann gar nicht verändert werden, aber es ist nicht mehr unangenehm, sondern angenehm oder zumindest neutral. Dann kann Ärger nicht mehr entstehen. Aber Achtung: Das kann auch durch Gleichgültigkeit erreicht werden. Das ist nicht gemeint. Empathie zu unterdrücken ist niemals das Ziel der Praxis. Und noch einmal Achtung: Sich zu erhöhen, zu glauben, man sei der liebevollere Partner in der Beziehung, kann auch in die Falle führen, etwa jener, zu glauben, man sei schon erleuchtet. Es ist die Achtsamkeit, die die negativen Seiten und Tiefen des eigenen Ichs aufdeckt. Liebevolle Akzeptanz ist nicht die Übung der Achtsamkeit, sondern deren Ergebnis. 

Übung „Wiederholung“

Sich die vorigen Passagen mehrfach durchlesen, so lange, bis man sie wirklich verstanden hat oder mit den eigenen Erfahrungen in Deckung bringen kann. Es wird vermutlich trotzdem nicht gleich gelingen, Ärger oder andere unheilsame Emotionen nie mehr zu erleiden, das dauert länger, vermutlich Jahre. Aber man ist auf dem richtigen Weg.

Es gibt viele Gründe, die oben beschriebenen Übungen nicht zu praktizieren. Das kann daran liegen, dass man die Zusammenhänge zwischen Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln gar nicht kennt oder nicht genügend bewusst auf die Gefühle achtet oder gar nicht in Betracht zieht, dass es möglich ist, Stress bewusst zu überwinden, oder weil man meint, es könne in ein emotionsloses, quasi in Watte verpacktes Leben führen, wenn man sich nie mehr aufregt. Das Gegenteil ist der Fall. Jetzt erst kann man frei und bewusst mit den eigenen Emotionen umgehen. Ziel ist es, dass es nicht die Emotionen sind, die das eigene Verhalten bestimmen, sondern umgekehrt das Bewusstsein die eigenen Emotionen. Hat man echte Wahlfreiheit im eigenen Handeln, muss man nicht ständig lächelnd auftreten. Wenn man meint, es sei notwendig, kann man auch lauter werden und schreien. Wer kann dann unterscheiden, ob das unfrei war oder frei, unheilsam oder heilsam? Vermutlich nur man selbst. Aber man sollte sich nichts vormachen. Das Ego ist trickreich. Besser also gar nicht schreien – aber auch nichts unterdrücken. Denn das kann zu Krankheit und Depression führen.

Das ist buddhistische Praxis in ihrer höchsten Vollendung. Sie ist nicht einfach.

 Die Quelle der Achtsamkeit

Die ältesten, noch bestehenden Quellen zur Achtsamkeit finden sich im sogenannten Pali-Kanon, der ältesten zusammenhängend überlieferten Sammlung von Lehrreden Buddhas. Die Lehre von den Grundlagen der Achtsamkeit steht im Satipatthana-Sutta geschrieben. Es findet sich im Pali-Kanon zweimal, und zwar in der Mittleren Sammlung, Majjhima-Nikaya, als 10. Rede und in der Langen Sammlung, Digha-Nikaya, als 22. Rede. Auf diese zweite Sutta bezieht sich der Text. Sie trägt den Titel „Maha-Satipatthana-Sutta – Die große Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit“. Der Originaltext dieser Lehrrede kann im Internet gefunden werden: www.ursachewirkung.com/118-palikanon

 


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 120: „Lebendiger Buddhismus"

UW120


Bild Teaser und Header © Pixabay

Univ.-Prof. Dr. Peter Riedl

Univ.-Prof. Dr. Peter Riedl

Peter Riedl ist Universitätsprofessor für Radiologie und seit über 30 Jahren Meditations- und Achtsamkeitslehrer. Er ist Gründer und war bis Juni 2019 Herausgeber der Ursache\Wirkung, hat W.I.S.D.O.M., die Wiener Schule der offenen Meditation und das spirituelle Wohnheim Mandalahof gegründet. S...
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