Der Buddhismus hat im Westen seine Verbreitung und Akzeptanz gefunden. Andere asiatische Weisheitslehren sind dagegen eher unbekannt. Mit Blick auf den Daoismus ist das sehr schade, denn auch seine Lehren sind interessant, hilfreich für das Leben und voll tiefer Weisheit.
Als ich in China lebte und einmal gemeinsam mit einer alten Buddhistin in Beijing den Tempel der weißen Wolken, eine bekannte daoistische Religionsstätte, besuchte, verneigte sich die alte Dame vor den Statuen des Jadekaisers und des Reichtumsgotts mit der gleichen Inbrunst, wie sie es sonst vor dem Jadebuddha oder der Guanyin im buddhistischen Guangji-Tempel tat.
Ihre Eltern seien zwar Buddhisten, erklärte sie mir, ihre Großmutter aber eine gläubige Daoistin gewesen, und so sei sie heute einfach beides. Die Frau ist kein Einzelfall. Die Volksreligion in China sowie in anderen asiatischen Ländern stützt sich auf Bräuche, Riten und Überlieferungen, aber sie kennt keine Dogmen.
Als der Buddhismus in den Westen kam, insbesondere seine japanischen und tibetischen Formationen, etablierte sich unter westlichen Menschen die Vorstellung eines exklusiven Heilspfads mit hochverwirklichten Meistern. Ihre charismatische Kompetenz sollte einen schließlich zur Erleuchtung führen, wenn man es denn an gläubiger Devotion bloß nicht mangeln lässt.
Immer wieder hört man viel Positives von Menschen, die auf diesem Weg ganz Wunderbares erlebten. Aber es gibt auch Schattenseiten: große Enttäuschungen sowie Missbrauch durch sexgierige und gewalttätige Lamas und Roshis. Die bedingungslose Hingabe an einen spirituellen Meister ist zwar ein in Asien sehr verbreitetes Phänomen, aber längst nicht alle religiösen Menschen dort schauen so naiv und ehrfurchtsvoll auf die „großen Ehrwürdigen“ wie viele Neukonvertierte im
Westen. Stattdessen trifft man überall auf einen ausgeprägten volksreligiösen Heilspragmatismus.
Als der Buddhismus um die Zeitenwende über die Seidenstraße und auch auf dem Seeweg von Indien nach China kam, hielt man ihn dort zunächst für nichts weiter als eine neue daoistische Meditationsschule, eine indische „Lehre vom Dao“ sozusagen. Das Wort „Dao“ hat im Chinesischen mehrere Bedeutungen, eine davon ist „Weg“, eine andere „das Höchste“.
Die Menschen sahen das Neue im Licht des Vertrauten. So wie die heimischen Daoisten hatten auch die Buddhisten spezielle Techniken der geistigen Übung. Sie lehrten Ethik und Achtsamkeit im alltäglichen Leben und präsentierten mit dem Buddha einen charismatischen Religionsstifter, gleich dem heimischen, in späteren Jahrhunderten vergöttlichten Laozi.
Im Lauf der Zeit zeigten sich durch das intensivere Studium der Dharma-Lehren und zunehmende Vertrautheit mit der Praxis der buddhistischen Meditation die Unterschiede zum angestammten Daoismus immer deutlicher. Begriffe wie „Nirvana“ oder „Shunyata“ übersetzte man nun nicht mehr mit „Dao“ ins Chinesische. Es folgte eine Periode wechselseitigen Lernens.
Inspiriert vom Modell der buddhistischen Drei Körbe, einer systematischen Zusammenstellung von Texten, gingen jetzt erstmals die Daoisten daran, einen eigenen Kanon all ihrer Werke zu erstellen. Sie gliederten ihn in „Drei Höhlen“ und nannten ihn Daozang.
Auch die buddhistischen Drei Juwelen: Buddha, Dharma, die Lehre, und Sangha, die Ordensgemeinschaft, haben im Daoismus ihre Entsprechungen gefunden, unter anderem in Form des Dreigespanns von Dao, den Schriften und den (Himmels-)Meistern, manchmal auch in Form der drei Schätze der Kultivierung: Essenz, Qi und Geist.
Aber es gab auch Streit und heftige Polemik. So heißt es im „Huahujing“, einer antibuddhistischen Schmähschrift, dass, nachdem Laozi China auf einem Ochsen verlassen hatte, er nach Indien gegangen sei. Hier wurde er dann im „Land der Barbaren“ als Buddha wiedergeboren, um seine Lehre in einer den dortigen „barbarischen“ Verhältnissen angemessenen Form zu verbreiten.
Alle Dinge kommen aus dem Dao und kehren am Ende wieder in das Dao zurück.
Vor allem war man in China stets offen für das Neue, was mit der indischen Religion ins Land kam. Durch den Buddhismus präzisierte man die zuvor eher diffusen Jenseitsvorstellungen, und plötzlich kamen Fragen auf, die man sich zuvor auf diese Weise noch gar nicht gestellt hatte, insbesondere hinsichtlich einer nachtodlichen Existenz. Nach Laozis „Daodejing“, dem großen und doch nur 5.000 Zeichen zählenden Grundtext des Daoismus, kommen alle Dinge aus dem Dao und kehren am Ende wieder in das Dao zurück.
Aber auf welche konkrete Weise das geschieht, war offengeblieben. Da war von drei Himmels- und viererdgebundenen Seelen die Rede, die sich nach dem Tod vom Leichnam lösen und in verschiedene Richtungen gehen; nur eine verweilte an der Grabstelle. Man hoffte auf eine diffuse Weiterexistenz der Ahnen in den Nachkommen. Auch glaubte man an die Existenz von Erdgefängnissen, „diyu“ genannt, in denen Götter mit dem Gebaren kaiserlicher Mandarine über das weitere Schicksal der Verstorbenen in dieser düsteren Jenseitswelt urteilten.
Weil die postmortale Existenz so unattraktiv erschien, setzten die Daoisten alles daran, dem Tod zu entfliehen. Irdische Unsterblichkeit oder zumindest ein sehr langes Leben zu erlangen, war anfangs das große Ziel der gefährlichen alchemistischen Experimente. Es war die Suche nach dem geheimnisvollen Elixier und dem ewigen Jungborn des Lebens, ausgedrückt etwa im Bild des Greises mit dem Gesicht eines Embryos.
Später wurden die Praktiken durch die Lehren der „Inneren Alchemie“ zur Steuerung der subtilen Energieströme im menschlichen Körper ersetzt. Sie ähneln den tantrischen Lehren. Ja, es gab sogar sexuelle Partnerübungen, „shuangxiu“, für diesen Zweck, die aber – wie im Tantrismus – eher auf die Yang-Bedürfnisse des Mannes ausgerichtet waren.
Was die für den Buddhismus so grundlegende Anatta-Lehre vom Nichtselbst betrifft, gab es in China am Anfang ein großes Missverständnis, das einige Zeit brauchte, um ausgeräumt zu werden. Man hielt den altindischen Seelenglauben irrtümlicherweise für eine der Kernlehren des Buddhismus.
So kam mit dem Buddhismus erstmals die Vorstellung einer ewigen und unveränderlichen Seele nach China und damit der Gedanke einer permanenten Kontinuität des Ichs. Ein solches aber hatte im ewigen Wechselspiel von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen gar keinen Platz. Gleichzeitig konnte man mit Buddhas Erklärungen zu den „skandhas“ als den fünf unpersönlichen Daseinsmerkmalen zunächst nicht viel anfangen; es passte einfach nicht in die heimische Gedankenwelt. Es folgten Jahrhunderte wechselseitigen Lernens. Die Daoisten hatten keine Bedenken, buddhistische Gottheiten wie die Bodhisattva Guanyin in ihr eigenes Pantheon aufzunehmen. Einige daoistische Schulen rezipierten auch die Karmalehre, die auf der Verantwortung
des Individuums für seine Handlungen gründet. Dagegen gab es in China die Vorstellung, dass Unheil,
das einem im Leben widerfährt, auf Verfehlungen der eigenen Vorfahren zurückzuführen sei, also eine Art kollektives Karma. Gleichzeitig nahmen die buddhistischen Statuen immer mehr chinesische Formen an, mit farbenprächtigen und ornamental reich verzierten Gewändern. Neue Buddha-Figuren voll barocker Leibesfülle drückten eine überschäumende Lebensfreude aus, anstelle der asketischen, manchmal ausgemergelt erscheinenden Körper der indischen Buddhas. Daoisten haben das Leben nie als Leidensprozess verstanden. Wozu sonst auch die Suche nach einem möglichst langen Dasein auf Erden, wenn nicht gar der physischen Unsterblichkeit? Oder gehört der Buddhismus eher zum Daoismus?
Daoisten haben das Leben nie als Leidensprozess verstanden.
Man trifft in China manchmal auf Menschen, die das so sehen. Selbst einige Sinologen halten den chinesischen Buddhismus für eine der vielen Varianten des Daoismus oder sprechen von einer Synthese beider. Auf jeden Fall hat der Buddhismus in China einiges vom Daoismus übernommen.
Laozis Lehre von der alles erhellenden Macht der Stille und dass die höchsten und letzten Dinge mit Worten nicht ausgedrückt werden können, hat die Bildung der Chan- und späteren Zen-Schulen inspiriert, zum Beispiel mit ihrer Rhetorik der Wortlosigkeit und der Praxis des donnernden Schweigens. Aus Buddhas eher beiläufiger „Blumen-Demonstration“ wurde im Nachhinein eine eigene buddhistische Traditionslinie konstruiert, mit dem Mythos von 28 Linienhaltern, die bereits in Indien von Kashyapa die „Lampe des Pfads“ übernommen und bis nach China weitergereicht hätten.
Die Zeugnisse daoistischer Beobachtung der Natur in ihrem beständigen Wandel und ihrer Vergänglichkeit hat die buddhistischen Lehren in China sehr anschaulich werden lassen. Mit Malerei, Kalligrafie, den Kampfkünsten und achtsamen Bewegungslehren wie dem „Taiji“ oder dem Schwerttanz wurde die spirituelle Praxis um neue Formen bereichert. Dazu kamen Atemübungen, wenngleich einzelne Techniken wie die daoistische Embryonalatmung keinen Eingang in den Buddhismus fanden. In welcher Weise die komplexen Visualisierungsübungen zur Aktivierung der Körpergottheiten und das Ritualwesen in Verbindung zum tantrischen Buddhismus stehen, ist ein heute noch offenes Forschungsthema. Ob Daoismus und Buddhismus im Kern eine oder zwei verschiedene Religionen sind, darüber lässt sich genauso trefflich streiten wie über die Frage, ob Daoismus und Buddhismus jeweils überhaupt eine Religion sind.
Der philosophische Daoismus eines Laozi und Zhuangzi vor der Zeitenwende mit seiner Ethik des Nichthandelns und sprachkritischen Metaphysik ist ziemlich weit entfernt vom religiösen Daoismus späterer Jahrhunderte mit all den Talisman-Kulten und magischen Praktiken, dem ausgefeilten Ritualwesen, den komplexen Übungen zur Erweckung der Körpergottheiten und der Öffnung der Kanäle zum ungehinderten Fließen der Qi-Energie durch die Energiebahnen des Leibs.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 125: „Geist & Gehirn"
Ähnliches lässt sich auch mit Blick auf den Buddhismus sagen. Die Unterschiede zwischen dem farbenprächtigen Gottheiten-Yoga der Tibeter und der Schlichtheit des japanischen Zen, dem frommen Glaubensbuddhismus der Reinen-Land-Schule in China und Japan sowie der täglichen Übung eines Vipassana-Praktizierenden oder Wellness-Buddhismus im Westen sind derart ausgeprägt, dass sich auch diese Frage durchaus unterschiedlich beantworten lässt.
Alle Religionen sind synkretistisch, das heißt, sie enthalten immer auch die Lehren und Bräuche anderer Glaubensrichtungen, vom Osterfest, das vermutlich auf die germanische Göttin Ostera zurückgeht, bis zu all den Gottheiten der Hindu-Religionen, die ihren Platz im buddhistischen Pantheon fanden. Wer sich ausschließlich zu einer Religion bekennt, entscheidet sich damit oft nicht nur für einen bestimmten Weg durchs Leben, sondern zugleich gegen mögliche andere, die dann zumeist nicht mehr beachtet werden. Doch sollte nicht grundsätzlich gelten: Je mehr Wege man kennt, desto besser kann man sich orientieren und kommt voran? In Franz Kafkas Gleichnis „Vor dem Gesetz“ kommt ein Mann zu einem Tor, vielleicht das Tor zur Weisheit oder zur Erleuchtung. Davor steht ein grimmiger Torhüter, der den Mann nicht einlassen will. So wartet dieser sein ganzes Leben, den Wächter wieder und wieder bittend um Einlass, den dieser ihm verwehrt. Aber der Mann wagt es nicht, den Torhüter einfach beiseitezuschieben und hindurchzugehen. Am Ende ist er alt geworden und so schwach, dass er nicht mehr gehen kann. Da schließt der Wächter das Tor, erklärt dem Mann aber noch, dass dieses Tor nur für ihn bestimmt war. Jeder Suchende sollte seinen eigenen Weg
gehen und darf sich nicht allzu viel um furchterregende Wächtergestalten kümmern. Es gibt also gute Gründe, der daoistischen Schwesterreligion ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Auf jeden Fall steckt viel Daoismus auch im westlichen Buddhismus. Und man muss wohl schon ein gelassener
Daoist sein, um zu akzeptieren, dass das eigentlich gar nicht gewürdigt wird.