Es gibt verschiedene Weisen, die Lehren Buddhas in ihrer historischen Entwicklung zu gliedern. Eines der gängigen Modelle des Buddhismus selbst ist die aus dem Mahayana stammende Metapher der „Drei Drehungen des Dharma-Rads“. Die Zeit ist reif für eine 4. Drehung!
Das Dharma-Rad: die erste Drehung
Als erste Drehung des Dharma-Rads wird die Unterweisung Buddhas an seine ersten fünf Anhänger bezeichnet.
Das Dharma-Rad: die zweite Drehung
Die zweite Drehung des Dharma-Rad bezieht sich auf die Prajnaparamita-Sutras. Das sind spätere buddhistische Lehrtexte, die sich der sogenannten Leerheit, der Shunyata-Lehre, widmen. Shunyata bedeutet, dass alle Dinge ohne Substanz sind, ohne einen festen Kern. Sie sind „leer von Eigenexistenz“, da sie durch wechselseitige Bedingtheit miteinander verbunden sind.
Dies ist im frühbuddhistischen "anatta" bereits angelegt. Einer Lehre, die in Opposition zum indischen "atman" – dem wahren Selbst, das innere Wesen oder die unvergängliche Seele – steht. anatta halten viele akademische Buddhologen aus verschiedenen Gründen für wahrscheinlich authentisch, auf den Religionsgründer direkt zurückgehend.
Dazu wird bei der „zweiten Drehung“ großen Wert auf das Konzept des Bodhisattva gelegt, der das eigene endgültige Erwachen für das Wohl aller anderen fühlenden Wesen zurückstellt.
Das Dharma-Rad: die dritte Drehung
Die dritte Drehung des Dharma-Rad schließlich steht für eine nochmalige Erweiterung der Lehre Buddhas.
Sie konzentriert sich insbesondere auf die Buddha-Natur aller Wesen und die Verfeinerung der Mahayana-Philosophie. Dass alle Wesen Buddha-Natur in sich tragen, bedeutet, dass grundsätzlich alle Wesen zum Erwachen fähig sind.
Es ist auch die Phase, in der komplexere philosophische Systeme und Praktiken wie die des Vajrayana oder des tantrischen Buddhismus an Bedeutung gewinnen.
NEU: Die vierte Drehung
Feiern wir nun die vierte Drehung des Dharma-Rads: Das Buddha-Dharma begegnet moderner Wissenschaft und westlicher Kultur.
Wie schon bei den anderen Drehungen des Rads bedeutet dies eine Transformation. In diesem Fall ist es eine Transformation gleichsam einer umfassenden Reformation.
Einfach alles wird zunächst grundsätzlich infrage gestellt. Die buddhistische Reformation verlässt sich nicht mehr darauf, was traditionelle, sogenannte „autorisierte“ Lehrer dozieren. Vielmehr wird der Versuch unternommen, zu rekonstruieren, was Buddha tatsächlich gelehrt haben könnte.
Und dies ist manchmal weit weg von dem, was traditionelle Buddhismen lehren.
Was sind die Zweifelsfälle, die einer Untersuchung bedürfen? Es sind sicher zunächst Vorstellungen von buchstäblicher Wiedergeburt und „schlechtem sowie gutem Karma“, das die Qualität kommender individueller Existenzen steuere. Bei genauer Untersuchung bleibt nichts anderes übrig, als sie als unbegründet zurückzuweisen.
Traditionalisten, wie etwa Alfred Weil, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Buddhistischen Union und DBU-Ehrenrat oder Bikkhu Bodhi, ein bekannter US-amerikanischer Theravada-Mönch und -Lehrer, reagieren auf diese Zurückweisung reflexartig ablehnend, statt sich einer Diskussion zu stellen.
Sie werden nicht müde zu betonen, dass dieser reformatorische Buddhismus keiner sei. Man ruft „Häresie“. Denn nur die Buddhisten, die ein „Grundverständnis“ von buchstäblicher Wiedergeburt und Karma teilen, seien Buddhisten. Die anderen nicht.
Gibt es dieses „Grundverständnis“? Glauben alle Buddhisten an buchstäbliche individuelle Wiedergeburt? Ja, die meisten tun es.
Betrachtet man den Buddhismus weltweit, so nehmen sicher mehr als 99 Prozent aller Buddhisten an, dass sie, oder irgendetwas, das mit ihrem individuellen Ich zu tun habe, nach ihrem Tod wiedergeboren werden wird.
Sie glauben daran, es komme auf ihr Karma, ihre guten und schlechten Taten, an, ob sie als Tier oder Mensch, arm oder reich, als Geist oder Gott wiedererscheinen werden. Uns begegnet hier ein klassischer Reinkarnationsglaube. Das sind Ausprägungen eines Volksbuddhismus, den buddhistische Gelehrte aller Traditionen aber ebenso zurückweisen, wie es ein zeitgemäßer Buddhismus tut.
Stephen Batchelor, einer der Vordenker eines modernen, säkularen Buddhismus, setzt gegen die ablehnende Haltung von Traditionalisten: „Ich rätsel seit langem, warum Buddhisten aller Traditionen sich ohne Zögern als Anhänger des Buddha bezeichnen und dennoch die Diskurse ignorieren oder verunglimpfen, die höchstwahrscheinlich zu ihm zurückführen. Lieber legen sie ihm Sprüche und Ansichten in den Mund, die Jahrhunderte nach seinem Tod entstanden sind, betrachten mythische Darstellung seines Lebens als Biographie und akzeptieren ein lächerlich idealisiertes Bild dessen, wie er ausgesehen haben soll.“
Was säkulären Buddhismus ausmacht
Der säkulare Buddhismus versucht, das Buddha-Dharma von metaphysischen Überbauten zu befreien, nicht, um es zu verarmen, sondern um es zu klären.
Er fragt: Was bleibt übrig, wenn man Wiedergeburt, Höllen, Götterreiche und karmische Buchhaltung beiseitelässt? Die Antwort lautet: eine radikale, existenzielle Praxis des Erwachens im Hier und Jetzt.
Eine Haltung, die nicht glaubt, sondern erforscht.
Säkular bedeutet hier nicht „areligiös“ im Sinne einer Ablehnung des Spirituellen, sondern „weltlich“ im ursprünglichen Sinn: auf diese Welt bezogen, auf das Leiden, das Handeln, das Mitgefühl im menschlichen Alltag.
Der säkulare Buddhismus ist also kein neuer Ismus, sondern eine methodische Rückkehr zum Erfahrbaren: Achtsamkeit als anthropologische Grundpraxis, Nicht-Anhaften als psychologische Einsicht, Mitgefühl als ethische Notwendigkeit.
Diese Lesart steht in der Tradition von Stephen Batchelor, Martine Batchelor, Winton Higgins, aber auch moderner Denker wie David Loy oder Evan Thompson.
Sie alle zeigen, dass der Buddha in den frühesten Texten kein Heilsbringer im religiösen Sinne war, sondern ein Lehrer der Erfahrung, ein radikaler Pragmatiker des Geistes. Der säkulare Buddhismus knüpft also dort an, wo das Dharma ursprünglich ansetzte: beim menschlichen Dasein als Prozess.
Warum säkularer Buddhismus westliche Menschen besonders anspricht
Der säkulare Buddhismus ist keine Anpassung an den Westen, sondern eine Übersetzung für eine Epoche, in der religiöse Autorität nicht mehr selbstverständlich ist.
Westliche Menschen sind es gewohnt, kritisch zu denken, zu hinterfragen, zu prüfen. Die großen Erzählungen sind zerbrochen; was bleibt, ist die Suche nach einer gelebten Spiritualität, die ohne Dogma auskommt.
Genau hier setzt der säkulare Buddhismus an: Er fordert nichts, was den gesunden Skeptizismus beleidigt. Er verlangt keinen Glauben, sondern lädt zum Experiment ein. Meditation wird nicht als sakrale Übung verstanden, sondern als Methode, Wahrnehmung und Reaktivität zu erforschen. Ethik entsteht nicht aus göttlichem Gebot, sondern aus der Einsicht in wechselseitige Abhängigkeit.
In einer Welt, die von Informationsüberfluss, Beschleunigung und Narzissmus geprägt ist, spricht der säkulare Buddhismus jene an, die eine Praxis der Gegenwärtigkeit suchen – nicht als Flucht, sondern als tiefere Verantwortung.
Er ist kompatibel mit Psychologie, Neurowissenschaft, Philosophie und Kunst; er steht in einem offenen Dialog mit der Moderne, statt sie zu verurteilen.
Auch die traditionellen Schulen sind längst säkularisiert
Es ist eine Illusion, zu glauben, der Westen hätte „authentische“ Traditionen importiert und säkularer Buddhismus sei nun der Gegenentwurf.
Schon der Zen, der im 20. Jahrhundert nach Europa und Amerika kam, war ein modernes Konstrukt: von japanischen Reformern geformt, vereinfacht, an westliche Begriffe angepasst.
Der Theravada, wie ihn westliche Vipassana-Zentren lehren, ist kein Abbild des singhalesischen oder birmanischen Volksbuddhismus, sondern eine psychologisch entkernte, rationalisierte Form.
Und Vajrayana oder Tantra – sobald sie in Achtsamkeitskonferenzen, Psychotherapien oder Online-Kursen auftauchen – verlieren ihre rituelle Komplexität und metaphysische Architektur.
Das ist keine Verfälschung, sondern eine notwendige Evolution.
Der Buddhismus überlebt, indem er sich verwandelt. Jede Übertragung über Sprach-, Kultur- oder Epochengrenzen ist eine Übersetzung – und Übersetzung ist immer Interpretation.
Säkularer Buddhismus als Einladung zur Selbstverantwortung
Wenn ich also säkularer Buddhismus heute als „vierte Drehung“ bezeichne, dann nicht, weil er den Dharma verrät, sondern weil er seine lebendige Dynamik fortführt. Der Buddha selbst sprach von einem „geschickten Mittel“, „upaya“.
Und vielleicht ist der säkulare Buddhismus dieses geschickteste Mittel, das unsere Zeit hervorgebracht hat.
Die vierte Drehung ist kein dogmatischer Bruch, sondern eine Einladung zur Selbstverantwortung.
Sie nimmt Buddha beim Wort: „Seid euch selbst eine Insel, euch selbst eine Zuflucht.“ Wenn die mythischen Landschaften der alten Texte verblassen, bleibt die Erfahrung des Bewusstseins, das sich selbst erkennt und in dieser Erkenntnis Mitgefühl findet.
So kehrt der säkulare Buddhismus zum Ursprung zurück, indem er die Sprache der Moderne spricht.
Er ist weniger Religion als Praxis, weniger Glauben als Einsicht, weniger Tradition als lebendige Bewegung. Ein Dharma ohne Jenseits – und gerade dadurch zutiefst menschlich.
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