Immer wieder sind die Medien voll von Berichten über den Missbrauch Jugendlicher durch katholische Geistliche. Doch auch im Buddhismus ist Missbrauch ein großes Thema.
Kirchenfunktionäre schlagen theatralisch um sich und anderen schuldbewusst an die Brust. Man tut so, als ob diese Zustände völlig überraschend kämen. Dabei kennt man sie seit Jahrhunderten. Man schreibt, die Kirche sei in einer Vertrauenskrise, als ob bisher Vertrauen in die Kirche tief und weit verbreitet gewesen wäre.
Seien wir ehrlich: Viel der Empörung über Kinderschändung und sonstigen Missbrauch in der katholischen Kirche stammt nicht aus Mitgefühl mit den Opfern, sondern aus der Freude, jetzt innerkirchlich für seine Sache losschlagen zu können (Zölibats- und Papstkritik); oder aus der Angst, dass Kirchensteuerzahler abhandenkommen könnten; oder aus der Schadenfreude Kirchenfremder und Religionskritischer („Da sieht man einmal wieder, wie die Kirche ist.").
Auch ich, durch und durch antiklerikal, muss gestehen, dass manchmal in meinem Herzen unedle Schadenfreude statt angebrachtem Mitgefühl mit den Opfern überwiegt. Dabei haben wir Buddhisten keinerlei Grund, uns besser zu fühlen. Da niemand an den Pranger gestellt werden soll, nenne ich bei den folgenden Belegen für meine Behauptung keine Namen.
Schon in den Anfängen des Buddhismus musste man gegen sexuellen Missbrauch durch buddhistische Mönche kämpfen:
So stellte der Überlieferung nach Buddha aus gegebenem Anlass unter schwere zeitweilige Exkommunikation (Sanghādisesa) aus der Ordensgemeinschaft, wenn ein Mönch einer Frau den Sexualverkehr mit ihm anpreist, da Sex mit einer so tugendhaften Person die höchste Form des Dienstes sei.
In Ländern mit einem großen Anteil an buddhistischer Bevölkerung und in Indien kommt erschwerend hinzu, dass es wohl eine große Dunkelziffer gibt, da über solches oft – wie bei uns – ein Mantel des Schweigens gebreitet wird:
In Korea gibt es buddhistische ‚mad monks', welche die Behauptung, sie als Heilige seien jenseits von Gut und Böse, nutzen, um die, die bei ihnen Heil suchen, schamlos finanziell, sexuell und sonst wie auszubeuten.
2009 werden in Sri Lanka zwei Mönche verhaftet, die zusammen mit acht weiteren Männern jahrelang elf Kinder (zwischen 9 und 11 Jahre alt) in einem Waisenhaus sexuell missbraucht hatten.
Bei Buddhisten im Westen schaut es nicht besser aus:
1989 wird bekannt, dass ein Vajra Regent, obwohl er wusste, dass er seit 1985 AIDS hatte, über Jahre ungeschützten homosexuellen und heterosexuellen Verkehr pflegte und auch zwei seiner Sexualpartner angesteckt hat.
1991 sagte Roshi Robert Baker Aitken (geboren 1917) in einem Interview:
„Ja, dazu kommen die Fragen des Missbrauchs, mitsamt der Ausbeutung von Lernenden durch Lehrer. Das war während der letzten über zwanzig Jahre ein besonderes Problem in buddhistischen Zentren in den USA – Zenbuddhistischen Zentren, Theravada-Zentren und Tibetischen Zentren. Während der letzten acht Jahre war kaum ein Zentrum ohne Skandal." (Tricycle: The Buddhist Review. -- ISSN 1055-484X. -- Vol. I, No. 1 (Fall 1991). -- S. 68f.; meine Übersetzung)
1997 werden gegen den Gründer einer internationalen buddhistischen Organisation glaubhaft Vorwürfe erhoben, dass er seine Stellung missbrauchte, um an jungen erwachsenen Männern seine homosexuellen Begierden auszuleben.
Ich will Ihnen weitere ekelerregende Beispiele ersparen.
Unter Missbrauch verstehe ich im Folgenden den unrechtmäßigen Gebrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses, um eigennützige Ziele zu erreichen. Solche Ziele sind oft Sex, materielle Vorteile, aber auch der Genuss reiner psychischer Macht über andere. Bei Missbrauch kann man seine Stellung missbrauchen, aber auch bloßes Vertrauen, seinen moralischen Kredit missbrauchen. Ich rede keiner Inflation des Begriffs ‚Missbrauch' das Wort. Die Verkürzung auf sexuellen Missbrauch Minderjähriger erscheint mir aber irreführend. So traumatisch wie für Minderjährige sexueller Missbrauch sein kann, so traumatisch kann es für eine Frau sein, wenn sie entdeckt, dass der ‚Heilige', dem sie sich sexuell hingegeben hat, in Wirklichkeit ein ganz gemeiner Schuft ist. Ebenso traumatisch kann es sein, wenn jemand entdeckt, dass er jahrelang einem ‚heiligen' Schurken ein materiell wundervolles Leben ermöglicht hat. Ganz besonders traumatisch ist es, wenn jemand feststellt, dass er oder sie sich jahrelang einem ganz gemeinen Wesen als geistlichem Führer anvertraut hat.
Missbrauch hat im Wesentlichen zwei Voraussetzungen: ein Abhängigkeitsverhältnis und oft oder meist Heuchelei. Dazu kommt häufig nach der Aufdeckung Vertuschung nach außen hin. Auch im buddhistischen Orden gilt das Prinzip, dass man schmutzige Wäsche nicht in der Öffentlichkeit wäscht.
Das Abhängigkeitsverhältnis kann institutionalisiert sein, zum Beispiel in einem Kloster, einem Zentrum, zwischen einem Mönch und seinen Novizen. Oft ist das Abhängigkeitsverhältnis rein psychischer Art: Abhängigkeit von einem männlichen oder weiblichen Guru, Meister, geistlichen Führer. Dabei kommt es zu erotischen und anderen Phänomenen, die aus der psychotherapeutischen Behandlung bekannt sind. In der Psychotherapie wird darum sexueller Kontakt zwischen Therapeut und Klient von den Standesorganisationen als Missbrauch verurteilt und ist in vielen Ländern strafbar (Schweiz: Art. 193 Abs. 1 StGB, Deutschland: § 174 c StGB).
Mit der Heuchelei ist es wohl so, wie mir eine koreanische buddhistische Nonne einmal sagte: „Ohne ein gewisses Maß an Heuchelei kann keine Religion überleben." Dass auch im Buddhismus von diesem Wahlspruch eifrig Gebrauch gemacht wird, gereicht nicht zu seinem Ruhm. Leider kann man auch in buddhistischen Ländern das deutsche Sprichwort anwenden:
„Mönche sind Wohnhäuser der Heuchelei."
Wie vielen Frauen, die sich buddhistischen Scharlatanen anvertrauen, möchte man mit Donna Elvira (in Mozarts ‚Don Giovanni') zurufen:
„O flieh', Betrog'ne, flieh'
Und trau' dem Falschen nicht;
Sein Blick ist Heuchelei
Und Lüge, was er spricht!"
Wie sehr Buddha die Gefahr der Heuchelei sah, zeigt sich darin, dass er folgende Form der Heuchelei, die dem Mönch ein sorgenfreies Leben in Wohlstand sicherte, zu den vier Vergehen stellte, die durch die Tat selbst lebenslange Vertreibung aus Orden bewirken: Wenn ein Mönch wissentlich die falsche Behauptung aufstellt, irgendeinen bestimmten fortgeschrittenen Punkt als Erlöster erreicht zu haben, dann ist er ipso facto kein Mönch mehr (Pārājika 4).
Man kann als Außenstehender wohl nicht erkennen, ob jemand auf dem Erlösungsweg wirklich weit gelangt ist. Es gibt aber eindeutige Kriterien, aufgrund derer man erkennen kann, ob jemand sich fälschlich Heiligkeit zuschreibt.
Die vier Stufen von solchen, die Heilsgewissheit haben können, müssen demnach folgende Eigenschaften besitzen:
- Ein Stromeingetretener (sotāpanna) hat überwunden den falschen Glauben an eine Seele, Zweifel an der Lehre Buddhas und starkes Hängen an Sittlichkeit und Gelübden, d.h. am Schaffen von gutem Karma durch Observanzen.
- Ein Einmalwiederkehrer (sakad-āgāmī) hat zusätzlich nur noch schwache Gier nach Objekten der Sinneswelt und nur noch schwaches Übelwollen.
- Ein Nichtwiederkehrer (an-āgāmī) hat auch die Gier nach Objekten der Sinneswelt und Übelwollen überwunden.
- Ein Arhant, voll Erlöster, hat zusätzlich zum Genannten auch Gier nach Feinstofflichem, Unstofflichem, Abhängigkeit vom sozialen Feld, Aufgeregtheit und selbstverständlich Fehlen der erlösenden Einsicht voll überwunden.
- Ein voll Erlöster (Arhant) ist also sittlich vollkommen. Dies mag eine gewisse Hilfe sein, um sich Heiligkeit Anmaßende zu durchschauen. Es ist aber keine Versicherung dagegen, dass man trotzdem durch Heuchler getäuscht wird.
Man kann auch an buddhistische ‚Meister' appellieren, keine Heuchler zu sein und die Abhängigkeit ihrer ‚Schüler' nicht auszunutzen. Die Versuchungen, die mit dieser psychischen Macht über andere verbunden sind, sind aber zu groß, als dass ihnen viele auf lange Zeit widerstehen könnten.
Man kann natürlich die bei solchen ‚Heuchlern' Zuflucht Suchenden warnen. Sobald aber Mechanismen, die wohl aus unserem Dasein als Rudeltiere stammen, wirksam werden, sind die Gewarnten oft blind. Dies ist für autoritäre Sekten und das Opus Dei gut belegt.
Das Beste scheint mir zu sein, das Übel bei der Wurzel zu packen und dem ganzen Guruismus im Buddhismus keinen Nährboden mehr zu geben. Buddha selbst hat gesagt, dass dies der richtige Weg ist:
Als der Buddha kurz vor seinem endgültigen Dahinscheiden in Beluvagāmaka schwer erkrankt war, fürchtete Ānanda, dass der Buddha dahinscheiden könnte, ohne noch besondere Lehren verkündet zu haben. Der Buddha widersprach dem mit den Worten:
Desito, ānanda, mayā dhammo anantaraṃ abāhiraṃ karitvā. Natthānanda, tathāgatassa dhammesu ācariyamuṭṭhi.
„Ānanda, ich habe die Lehre verkündet, ohne sie in Exoterisches (allgemein Zugängliches) und Esoterisches (für Eingeweihte Bestimmtes) zu trennen. Ānanda, der Wahrheitsfinder hat bezüglich der Lehren keine Faust eines Lehrers."
Damit erteilt der Buddha jeglicher Esoterik, jedem Guruismus eine Absage. Initiationen in angebliche Geheimlehren des Buddhismus mögen für manche durchaus hilfreich sein, auf dem Weg Buddhas zu gehen. Sie gehören aber nicht zum Kern der Lehre Buddhas, sondern zum Brimborium. Cicero hat sicher recht, wenn er schreibt:
Cognitionemque rerum aut occultarum aut admirabilium ad beate vivendum necessarium ducimus.
„Die Kenntnis verborgener oder wundersamer Dinge halten wir für nötig, um glücklich zu leben." (De officiis 1. 13; Übersetzung von Ernst Bury)
Die Erkenntnis des Leidens und des Weges zu seiner Überwindung befriedigt diesen Drang voll und ganz. Und alles dazu Nötige ist allgemein zugänglich. Niemand muss sich, um den Weg Buddhas zu gehen, von einem Guru abhängig machen. Der Buddha selbst hatte keine Faust eines Lehrers, in der er irgendetwas zurückhielt, was nicht allgemein zugänglich ist; da können wir getrost annehmen, dass in der Faust buddhistischer Meister auch nicht viel Brauchbares verborgen ist. Es besteht also keinerlei Grund, dass wir uns in die Gefahr begeben, von einem Pseudomeister missbraucht zu werden.
Ich kann mich voll der Mahnung anschließen, die Martin Luther 1518 in einem Brief an Johann Sylvius Egranus ausgesprochen hat:
„Deshalb fürchte Dich nicht vor der Unwissenheit. Lass Dich nicht durch hochtrabende Titel beeindrucken; Doktoren, Universitäten, Magister. Es sind Larven (fürchte Dich nicht vor denen, deren Herz Du siehst). Nicht der Menschen, sondern nur einer Larve Gestalt siehst Du."
Statt ‚Doktoren ... Magister' muss man nur einsetzen: ‚Ajahn, Rōshi, Geshe, Rinpoche, His Holiness und dergleichen'. Lassen Sie sich auch nicht von bombastischen asiatisch klingenden Namen beeindrucken. Namen sind nur leerer Schall.
Als ich 1978 buddhistischer Mönch in Nordthailand war und von meinem Abt keinerlei ‚geistliche' Führung bekam, fragte ich mich nach einiger Zeit: „Warum bin ich eigentlich hier? All das könnte ich auch daheim machen." Da ging mir auf, dass ich in der unbewussten Erwartung ins Kloster gekommen war, dass mich ein ‚spiritueller' Meister an der Hand nimmt und führt. Indem mein Abt dieser Erwartung nicht entsprach, begann ich zu verstehen, was Buddha mit den Worten meinte, die ich als Titel für diesen Beitrag gewählt habe. Diese Worte äußerte Buddha in Beluvagāmaka im gleichen Zusammenhang wie die oben zitierte Aussage, dass er keine Faust eines Lehrers habe.
Tasmātihānanda, attadīpā viharatha attasaraṇā anaññasaraṇā, dhammadīpā dhammasaraṇā anaññasaraṇā.
"Deshalb, Ānanda, seid euch hier selbst eine rettende Insel, eine Leuchte, habt niemand anderen als rettende Insel und Leuchte; habt die Lehre als rettende Insel und Leuchte und nichts anderes!"
Heute bin ich meinem damaligen Abt dankbar, dass er sich weigerte, mein Guru zu werden, und dass er nie seine Stellung mir gegenüber missbraucht hat.
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Das Beste scheint Ihnen zu sein, das Übel bei der Wurzel zu packen und dem ganzen Guruismus im Buddhismus keinen Nährboden mehr zu geben. Buddha selbst hat gesagt, dass dies der richtige Weg ist:
Da haben Sie meine volle Zustimmung, ich sehe das genauso.
Mit freundlichen, Aberglaubens- und Guruismusfreien, buddhistischen Grüßen.
Uwe Meisenbacher