Es ist ein großes Geschenk, wenn wir bei der Geburt oder dem Tod eines Menschen anwesend sein können. In der Konfrontation mit diesen Übergängen zwischen Sein und Nichtsein werden wir bis ins Mark getroffen von dem Wunder und der Zerbrechlichkeit unserer eigenen Existenz.
Alle Worte versagen angesichts der Ungeheuerlichkeit dieses Kommens und Gehens. Und so sehr auch alle darüber nachdenken und meditieren – das Rätsel, das uns von Geburt und Tod aufgegeben wird, lässt sich nicht lösen. Wir müssen mit den ewigen Fragen leben. Wir können sie zum Anlass nehmen, wacher und freudvoller durch den Alltag zu gehen.
Wenn wir den Gedanken an den Tod nicht verdrängen, gewinnt das Leben an Wertschätzung und Schönheit.
Wir sehen uns und unsere Nächsten mit anderen Augen, wenn wir wissen, dass wir gemeinsam zu Gast sind auf diesem Planeten.
Als ständig reisende Meditationslehrerin lerne ich viel durch mein Gastsein. In der häuslichen Nähe merke ich, wie jeder andere Gewohnheiten und Vorlieben entwickelt und auf seine Lebensart schwört. Als Gast bin ich aufmerksamer anwesend als bei mir daheim. Ich nehme das Gegebene weniger selbstverständlich, frage mich: Welche Grenzen gibt es? Auf welche Vorlieben sollte ich Rücksicht nehmen? Was wünschen sich die Gastgeber von mir, um gut mit mir leben zu können? Als Gast brauche ich Bescheidenheit und Offenheit. Also passe ich mich an, fühle mich ein in die alltäglichen Abläufe, die in jedem Haushalt so anders sind, darf mich an der Schönheit erfreuen und sie auch gleich wieder gehen lassen. Nichts davon gehört mir, dennoch bin ich aufgerufen, alles so zu behandeln, als sei es mein Eigentum.
Lernt man, sich im Leben als Gast zu fühlen, so benimmt man sich danach, man wird freundlicher und dankbarer, zuvorkommender und rücksichtsvoller, und man lernt zu wissen, dass einem nichts wirklich gehört.
Wladimir Lindenberg
Als Gast werde ich anders geachtet. Ich bin etwas Besonderes. Ich bekomme ein spezielles Essen zur Begrüßung und wieder ein feines Mahl zum Abschied. Wir tauschen Geschenke aus. Die Begrenztheit des Zusammenseins ist allen bewusst. Die Gastgeber bemühen sich, ihre Räume für mich ordentlich zu halten, ich wiederum versuche, nichts zu ändern oder zu bewerten, nicht zu vergleichen, sondern den Ort wieder so zu verlassen, wie ich ihn vorgefunden habe.
All meine Gastgeber pflegen ihre Meditationspraxis. Viele haben einen Hausaltar. Das Meditationskissen liegt einladend bereit. Bilder und Gegenstände in der Wohnung zeigen mir, wie die Verbindung zum Heiligen geschaffen wird. Irgendwo zwischen Askese und genussreicher Freude am Vergänglichen siedeln wir uns alle an. Einst besuchte ein junger Mann einen alten, berühmten Rabbi in einer fremden Stadt und wunderte sich darüber, mit wie wenig der Meister auskam: „Wie einfach Ihr lebt, mein Herr ...“ „Du hast doch auch nur einen Koffer dabei“, brummte der Alte. „Ich bin ja nur Gast in dieser Stadt“, sagte der junge Mann. „Mir geht es nicht anders“, erwiderte der Rabbi, „auch ich bin nur zu Gast in dieser Welt.“
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