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Leben

Der bekannte buddhistische Lehrer Stephen Batchelor spricht im Interview mit Ursache\Wirkung Redakteurin Ester Platzer über Achtsamkeit ohne Ethik und Buddhismus ohne Religion.

Zu Ihrem letzten Interview zum Thema Wiedergeburt in U\W 84 gab es sehr unterschiedliche Reaktionen. Gehen Sie davon aus, dass Reinkarnation wirklich nicht existiert?
Ich glaube, es ist genauso dogmatisch zu sagen, dass es keine Wiedergeburt gibt, wie zu sagen, dass Wiedergeburt existiert. Auch Menschen, die an Wiedergeburt glauben, wissen es schlussendlich nicht. Im Buddhismus als Religion hält man aus einer Glaubensüberzeugung heraus an gewissen Dingen, die man nicht wissen kann, fest, etwa an der Wiedergeburt. In der Religion Buddhismus gibt es klarerweise die Wiedergeburt, das stelle ich nicht infrage. Für mich ist Dharma jedoch ein Weg zu einem ethischen Leben. Wer sagt, dass es Wiedergeburt gibt, stellt eine empirische Behauptung über die Natur der Menschheit auf. Wir wissen es alle nicht. Es ist eine Ansicht der Dinge. Ich glaube, diese Frage sollte von Neurowissenschaftlern geklärt werden und nicht durch eine philosophische Debatte. Wir sollten nach Beweisen suchen.

Brauchen wir heute in der westlichen Welt eine neue Form von Buddhismus?
Ich glaube, Begriffe wie westliche und östliche Welt sind eine vollkommen veraltete Terminologie aus der Zeit des Kolonialismus. Wir leben heute in einer globalen Welt. Ich bezweifle, dass mein Leben so anders verläuft als dasjenige eines Menschen in Bangkok oder Tokio. Wir sind alle auf der Suche nach einem Dharma mit einer Vision für das globale Dorf, in dem wir leben. Es geht vielmehr darum, wie im Buddhismus mit der modernen Wissenschaft, der globalen Krise, der Politik und der Umweltzerstörung umgegangen wird. Die Geschichte zeigt, dass sich der Buddhismus immer wieder neu erfunden und angepasst hat. Was jetzt passiert, ist also nichts Ungewöhnliches. Die Frage lautet vielmehr, ob wir den Wandel einfach passieren lassen und nichts anderes tun, als einfach weiter zu praktizieren. Dann wird der Buddhismus sich über Generationen hinweg langsam anpassen. Die zweite Möglichkeit wäre, die buddhistische Lehre kritisch zu betrachten und zu versuchen, eine Sprache zu finden, die die Menschen in der heutigen Welt anspricht. Darin sehe ich momentan meine Rolle. Es gibt viele Menschen, die sich in den Dharma-Praktiken wiederfinden, sich aber im traditionellen Buddhismus nicht zu Hause fühlen.

 

„Es geht vielmehr darum, wie im Buddhismus mit der modernen Wissenschaft, der globalen Krise, der Politik und der Umweltzerstörung umgegangen wird."

 

Sie kommen aber aus der tibetischen Tradition, nicht wahr?
Ja, und ich kenne die Tradition sehr gut. Ich war viele Jahre Mönch und weiß daher, wovon ich rede. Ich komme vom tibetischen Buddhismus und der hat mich gelehrt, die buddhistischen Lehren kritisch zu hinterfragen. Der Buddhismus hat eine große kritische Tradition. Dieser Teil des Buddhismus ist nicht in die Modernität und damit auch nicht in den Westen durchgedrungen. Jeder will meditieren und glücklich sein und unterlässt es daher, vieles kritisch zu hinterfragen. Im Zuge meiner Ausbildung hat man mir aber beigebracht, dass es wichtig ist, Fragen zu stellen.

 

Stephen Batchelor

 

Glauben Sie, dass der Buddhismus dabei helfen kann, das Leid in der Welt zu überwinden?
Ich würde eher sagen, es geht darum zu lernen, mit dem Leid in der Welt umzugehen beziehungsweise sich dessen bewusst zu sein. Buddha beschreibt das Leben als Geburt, Krankheit, Altern und Tod. Ich glaube, es geht vor allem darum, sich bewusstzumachen, in welch letaler Situation wir uns befinden. Der einzige Weg, Geburt, Krankheit und Tod zu überwinden, ist, gar nicht zu leben. Der Legende nach verlässt Buddha den Palast und trifft auf einen kranken Menschen. Diese Begegnung verleitet ihn dazu, sich zu fragen: „Was mache ich hier und wie will ich leben?" Er sagt nicht: „Alles ist so furchtbar, wie kann ich dieses Leid beenden?" Vielmehr drängen sich ihm tiefe existenzielle Fragen über den Grund und die Bedeutung des menschlichen Lebens auf. Diese existenziellen Fragen werden im Dharma angesprochen. Es zeigt uns, wie wir durch die Bewusstwerdung unserer Sterblichkeit und des Leids in uns und in unserer Welt zufrieden leben können.

„Der Buddhismus hat eine große kritische Tradition."

 

Glauben Sie, dass der Buddhismus in zwei Richtungen aufgespalten ist, einerseits religiös und andererseits säkular?
Im Moment drängt sich einem fast dieser Eindruck auf, aber die Zukunft kann niemand voraussagen. Es gibt unzählige Menschen, die die buddhistische Ethik, die Philosophie und Meditation sehr schätzen, aber mit dem religiösen Buddhismus nichts zu tun haben wollen. Diese Menschen suchen nach etwas anderem, sie wollen sich nicht vor goldenen Bildern verbeugen oder beispielsweise an die Wiedergeburt glauben. Es gibt aber auch Menschen, die im Buddhismus ihre Religion finden. Wenn die religiöse Praxis ihr Leben reicher und glücklicher macht, dann ist das auch gut. Allerdings sehe ich hier die Gefahr der Trennung im Buddhismus. Welche Auswirkungen dies langfristig haben wird, kann ich jedoch nicht sagen. Die säkulare Herangehensweise birgt immer das Risiko, dass die buddhistische Identität verloren geht und möglicherweise zu einem Teil der Psychotherapie wird. Das wäre ein großer Verlust für mich. Dharma bietet einen allumfassenden Weg, das Leben zu sehen und ethisch in dieser Welt zu leben. Die Gefahr besteht darin, dass Teile aus ihrem Kontext gerissen und für etwas Gegensätzliches eingesetzt werden können. Die religiösen Buddhisten haben recht, wenn sie sagen, der Dharma könnte dadurch verloren gehen. Ich persönlich will keine Teile aus dem Buddhismus herausnehmen, sondern versuche, den Menschen ein Bild des Großen und Ganzen zu vermitteln. Auf den frühen Texten basierend sind Ethik, Meditation und Philosophie zentrale Elemente, die an unsere Zeit und unsere Bedürfnisse angepasst wurden. Meiner Ansicht nach benötigt man dazu längst kein Glaubenssystem mehr.

Stimmt es, dass Sie sich selber als säkularen Buddhisten bezeichnen?
Ja, ich würde mich als einen säkularen Buddhisten bezeichnen, obwohl ich das Wort säkular nicht unproblematisch finde. Andererseits sehe ich mich auf einem gewissen Level sehr wohl als religiöse Person, wenn religiös bedeutet, etwas mit äußerster Ernsthaftigkeit zu tun. Ich bin jedoch säkular, weil ich keine äußerlichen Formen von Religiosität, etwa Institutionen, religiöse Dogmen oder religiöse Machtverhältnisse, brauche. Für mich gehen Metaphysik und Macht immer Hand in Hand. Der erleuchtete oder allwissende Lehrer, der dem Nicht-Wissenden gegenüber steht. Er gewinnt durch sein Wissen an Autorität. Es geht somit um Machtverhältnisse. Wenn religiöse Buddhisten sich über mich beschweren, dann kritisieren sie nicht immer meine Ansichten. Sie machen sich eher Sorgen, dass ich ihre Autorität untergrabe. Wenn du nämlich die 15. Reinkarnation eines Lama in Tibet bist und ich sage, dass es wahrscheinlich keine Reinkarnation gibt, dann untergrabe ich ihre Autorität. Es geht in der Religion häufig nicht darum, Fragen zu stellen, sondern um die richtigen Antworten. Die richtigen Fragen zu fragen ist aber sehr wichtig.

 

„Der einzige Weg, Geburt, Krankheit und Tod zu überwinden, ist, gar nicht zu leben."

 

Sie haben ein neues Buch mit dem Titel ‚After Buddhism. Rethinking the Dharma for a Secular Age' herausgebracht. Worum geht es darin?
Ich beschäftige mich darin mit Buddhas Leben und betrachte ihn als eine historische Persönlichkeit. Es geht in der Hauptsache um sein Leben, seine Lehren und die Gesellschaft unter Berücksichtigung der Zeit, in der er lebte. Mir ist der Aspekt, wie Buddha mit ‚normalen' Leuten agierte, sehr wichtig. Ich versuche, sein Leben und seine Lehre zusammenzubringen, damit der Dharma ganzheitlich verstanden werden kann. Dazu reinterpretiere ich die Sutras im frühen Pali-Kanon. In der Reinterpretation geht es mir darum zu zeigen, was Buddhas Lehren für uns Menschen im 21. Jahrhundert bedeuten.

 

Stephen Batchelor

 

Glauben Sie, dass der Buddhismus uns helfen kann, Lösungen für die Probleme zu finden, die wir heutzutage in der Welt haben?
Es ist lächerlich zu sagen, dass der Buddhismus beispielsweise den Klimawandel aufhalten kann. Andererseits kann uns der Buddhismus sehr wohl als Ressource dienen, um zu lernen, wie man mit dem Klimawandel umgehen kann. Der Klimawandel ist ein gutes Beispiel. Ich war kürzlich sehr beeindruckt von der Enzyklika des Papstes. Darin verdeutlichte er, dass der Klimawandel eine moralische Frage ist und dass die Welt durch die Gier, welche im Kapitalismus ihren Ausdruck findet, angetrieben wird. Ich glaube, es ist sehr gut und wichtig, dass eine Persönlichkeit wie er so etwas äußert. Einige sehr engagierte buddhistische Denker sagen dies schon seit längerer Zeit, aber es ist immer sehr hilfreich zu wissen, dass der Papst auch auf unserer Seite steht. Das große Problem unserer Zeit ist nicht, ob wir allen Herausforderungen mit moderner Technologie begegnen können, es hat mit viel tiefgreifenderen Fragen zu tun: Wie können wir ein glückliches und zufriedenes Menschenleben führen? Können wir ein schlichtes Leben führen und uns von der Macht der Gier befreien? Können wir dadurch die Macht des Kapitalismus durchbrechen? Diese Themen sind nicht nur ein Anliegen der Buddhisten, sondern ein Anliegen der Menschheit. Der Buddhismus bietet Erkenntnisse, Ethik und Philosophie an, die uns helfen können, unsere Leben zu verändern – weg vom Konsum und der Getriebenheit des Kapitalismus, hin zu einem schlichten, zufriedenen und bewussten Leben. In diesem Ausmaß kann Buddhismus helfen, aber er hat nicht alle Antworten parat. Die Herausforderung für die buddhistische Gemeinschaft ist es, die Erkenntnisse so zu formulieren, dass die Menschen sie verstehen und praktizieren können.

„Dharma bietet einen allumfassenden Weg, das Leben zu sehen und ethisch in dieser Welt zu leben."

 

Wird der Buddhismus verwendet, um die persönliche Gesundheit und das Wohlbefinden zu erhöhen, und nicht zur Steigerung des allgemeinen Wohlbefindens?
Buddha lehrte, um das Leid der Menschen zu verringern. Wenn Menschen, die leiden und nach Lösungen suchen, diese in der buddhistischen Praxis finden und es nur für sich nutzen, um zufriedener zu werden, habe ich damit kein Problem. Es geht nämlich am Potenzial dieser Tradition vorbei. Buddha sah seine Lehre als eine Grundlage für eine Kultur oder sogar eine Zivilisation. In der tibetischen Tradition hat Erleuchtung mit der eigenen Erfüllung, aber auch mit der Erfüllung anderer zu tun. Die Arbeit, die ich und auch andere leisten, um Dharma für die heutige Zeit verständlich zu machen, ist nicht auf die persönliche Erfüllung durch Achtsamkeit ausgerichtet – sie geht weit darüber hinaus.

 

Stephen Batchelor

 

Ist es gefährlich, Achtsamkeit aus dem ethischen Kontext zu reißen?
Achtsamkeit wird oftmals verwendet, um Mitarbeiter zu bekommen, die mehr produzieren und daher höhere Umsätze erzielen. Vielleicht führt sie aber auch dazu, dass die Mitarbeiter mit ihrer Arbeit zufriedener und glücklicher sind, was ja auch positiv zu bewerten ist. Viele Buddhisten sind jedoch besorgt, dass Achtsamkeit vom Kapitalismus verwendet wird, um leistungsfähigere Arbeiter heranzuziehen.

 

„Buddha lehrte, um das Leid der Menschen zu verringern."

 

Ist Achtsamkeit in der Zwischenzeit zu einem Geschäftszweig verkommen?
Mit Achtsamkeit lässt sich momentan gutes Geld verdienen, was okay ist, weil wir alle eine Existenzgrundlage brauchen. Es ist mir jedoch viel lieber, wenn Buddhisten Achtsamkeit unterrichten, als Menschen, die nur einen achtwöchigen Kurs besucht haben und zufällig Psychotherapeuten sind. Was ich aber durch meine Arbeit bei Retreats in letzter Zeit gemerkt habe, ist, dass immer wieder Leute dabei sind, die sehr wenig über den Buddhismus wissen. Die Menschen haben aber Erfahrungen mit Achtsamkeit, zum Beispiel durch einen MBSR-Kurs, und wollen mehr über den Hintergrund erfahren. Viele möchten nicht nur ein Problem in ihrem Leben lösen und lernen, wie sie gelassener und produktiver sein können. Sie haben durch die Achtsamkeit einen anderen Blick auf sich selbst und auf die Welt bekommen. Sie sehen, dass sie Menschen sind, dass sie lebendig sind, gierig sind, und sobald man sich dies bewusstmacht, tauchen wieder neue Fragen auf, etwa nach der Bedeutung des Lebens, und dann googlen sie Achtsamkeit und sehen, es ist eine buddhistische Meditationspraxis. Heutige Vipassana-Retreats haben viele TeilnehmerInnen, die von der säkularen Achtsamkeit kommen, und die Konsequenzen sind mannigfaltig. Es gibt, wie gesagt, eine negative Seite wie Modifizierung und Ausbeutung, aber auch eine positive Seite, die vielen Menschen eine spirituelle Einsicht eröffnet.

Noch eine persönliche Frage. Sie sind ein ehemaliger Mönch und Ihre Frau ist eine ehemalige Nonne, hat dies Auswirkungen auf Ihre Ehe?
Für mehrere Jahre ein Mönch und eine Nonne zu sein ist eine wunderbare Vorbereitung auf das Eheleben. Ich kann es jedem nur empfehlen.

 

Stephen Batchelor, geboren 1953, ist buddhistischer Lehrer und Autor. Er war lange Jahre Mönch in der Zen- und der tibetischen Tradition. Er hat klassische buddhistische Texte aus dem Tibetischen übersetzt und zahlreiche Bücher verfasst, unter anderen ‚Buddhismus für Ungläubige' sowie sein aktuelles Buch ‚After Buddhism. Rethinking the Dharma for a Secular Age', das derzeit nur auf Englisch erhältlich ist.

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Ester Platzer

Ester Platzer

Ester Platzer, lebt in Wien und ist Mitglied der Chefredaktion bei Ursache\Wirkung. Davor lebte und arbeitete sie viele Jahre in Ostafrika. Ester absolvierte ihr Magisterstudium in internationaler Entwicklung an der Universität Wien.
Kommentare  
# Uwe Meisenbacher 2016-02-27 11:36
Buddhismus ohne Dogmen und Aberglauben,
wie geht das?
Für mich ist Stephen Batchelor einer der derjenigen,der den Buddhismus von Dogmen
und Aberglauben in richtiger Art und Weise,
befreit und reformiert.
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# Uwe Meisenbacher 2016-02-29 23:30
Ja, auch ich bin der Meinung, der Buddhismus
muß von Dogmen und Aberglauben befreit werden.
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# Uwe Meisenbacher 2017-02-06 11:51
Es gibt dazu passend ein Zitat von Voltaire:
Der Aberglaube ist der schrecklichste Feind des menschlichen Geschlechts.
Beherrscht er den Herrscher, verhindert er ihn, das Wohl seines Volkes zu besorgen, beherrscht er das Volk, so wird er es hindern, seinen eigenen Nutzen zu betreiben.
de Voltaire
Mit freundlichen säkularen Grüßen
Uwe Meisenbacher
Gelobt sind Buddhas aberglaubensfreie Weisheiten
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# Hope 2017-04-06 18:26
Vielen herzlichen dank! dieser artikel spricht mir aus der seele! :)
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# Lonny 2017-04-09 14:34
Danke für diesen artikel!!
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# Eva 2017-04-13 04:25
Ganz toller text!
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