Das höchste Ziel für ein gelingendes Leben fand die antike Weisheitslehre im Orient und Okzident in der Fähigkeit, zu lieben und geliebt zu werden.
Was ist weises Verhalten, wurde Konfuzius gefragt. „Die Menschen lieben“, war seine Antwort. „Die Liebe ist das Wesen unserer Seele“, lautet eine fernöstliche Weisheit. Erst in der Liebe vollende sich die eigene Persönlichkeit und kann sich „des Himmels erfreuen“, heißt es in einem kanonischen Weisheitsbuch der Chinesen. Die hier gemeinte Liebe umfasst weit mehr als die partnerschaftliche Liebe, die Liebe zu seinen Kindern, Verwandten, Freunden oder zu Gott, zur Arbeit, zu einem Kunstwerk, zu einem guten Buch, zu einem guten Essen, zu einer Idee oder etwa zu einem Philosophen. Jedes Mal, wenn eine solche Liebe erfüllt wird, erlebt man Freude. Alle Lebensfreude kann auf die Erfüllung eines Wunsches, eines Triebes, einer Sehnsucht oder eines Wollens zurückgeführt werden und ist eine Form erfüllter Liebe.
Das wird deutlich, wenn das Wesen der Liebe betrachtet wird. Der Mensch ist zwar ein vernunftbegabtes Wesen, wird aber überwiegend durch seine unbewussten Denk-, Wollens- und Verhaltensmuster gesteuert. Diese Muster oder Gewohnheiten sind viel wirkmächtiger als die Vernunft. Das erste und stärkste dieser unbewussten Muster, das das gesamte Sein maßgeblich bestimmt und lenkt, bekommt der Mensch im Mutterleib eingeprägt. Dort erlebt er in aller Regel einen paradiesischen Zustand, der alles gewährt, was Körper und Geist brauchen und was ihnen guttut: Nahrung, Wärme, Sicherheit, Getragen-, Gehalten-, Geliebt- und Geborgensein. Er erlebt das Durchströmtwerden, das Mitschwingen mit Puls- und Herzschlag, den Blutkreislauf der Mutter, ihr tönendes Sprechen, ihr rhythmisches Atmen. Das Kind ist eins mit ihr „in einem umhüllenden, tragenden und bergenden Resonanzraum“, führt der deutsche Philosoph, Kulturwissenschaftler und Publizist Peter Sloterdijk aus. Der Religionsphilosoph Martin Buber schrieb: „Das vorgeburtliche Leben des Kindes ist eine reine naturhafte Verbundenheit, Zueinanderfließen, leibliche Wechselwirkung.“ Diese „Urimpression“ der vollkommenen Geborgenheit im Einssein mit der Mutter bleibt die stärkste Triebfeder für das gesamte Leben. Fortan gründet alles Bestreben und Sehnen bildlich gesprochen in dem Wunsch, wieder in den Mutterleib zurückzukehren, sprich die Urerfahrung der vollkommenen Geborgenheit im nachgeburtlichen Leben erneut zu erleben. Carl Gustav Jung, der Begründer der analytischen Psychologie, meint, man suche „die verlorene Mutter“, die das Paradies sei.
All das Lieben, Sehnen, Wünschen zielt letztlich auf Einswerdung, Mitschwingen, Mitsein und Geborgenheit.
Alles Lieben, Sehnen und Wünschen zielt letztlich auf Einswerdung, Mitschwingen, Mitsein und Geborgenheit. Jede Freude ist eine Erscheinungsform dieses Einswerdens. Selbst in der profansten Bedürfnisbefriedigung erlebt man Vereinigung, indem man erhält, wonach man sich gesehnt hat. In der freudvollen Befriedigung wird das Ersehnte ein Teil von einem, man verschmilzt mit ihm. Am deutlichsten wird dies im gleichzeitigen Orgasmus der Liebenden, aber auch in intensiven, harmonischen Momenten, die mit dem Partner, den Kindern oder engsten Freunden erlebt werden, wenn man „im andern ganz bei [sich] […]selbst [ist]“, stellt der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel bereits Anfang des 19. Jahrhunderts fest. Solche Momente können auch in dem Erlebnis eines Kunstwerks, einer Symphonie, eines berührenden Films, eines guten Buchs oder beim Anblick einer grandiosen Naturlandschaft erfahren werden; auch beim achtsamen Genuss einer Tasse Tee, beim Anblick einer Blume, beim Sonnenaufgang, ja selbst bei Alltagsverrichtungen wie dem Aufräumen und Abspülen. Wenn man ganz bei dem ist, was man tut und erlebt, in ihm aufgeht, vergisst man sein Ego.
Eine Art Einswerdung liegt auch der Sehnsucht nach innerer Ausgeglichenheit und Gemütsruhe zugrunde. Jedes Problem, jeder Konflikt, jeder Streit, jede Unzufriedenheit mit sich selbst ist ein Zwiespalt, das Auseinanderklaffen von etwas. Jede Lösung oder Überwindung eines solchen Zwiespalts ist Zusammenführung, man wird wieder ganz, heil, eins. Das bedeutet nicht Auflösung lebendiger Spannungen, sondern Herstellung eines wohltuenden Zusammenklangs, einer harmonischen Ganzheit, einer Stimmigkeit, in der die Leiden des Zwiespalts und der Uneinigkeit überwunden werden. Zufriedenheit, Wohlbefinden, Lebensfreude, der „gute Fluss des Lebens“ stellen sich immer dort ein, wo eine harmonische, stimmige Lebensführung gelingt.
Je größer die Fähigkeit, zu lieben, wird, desto mehr fühlt man sich eins mit sich, den Mitmenschen und der Welt.
In all diesen Formen der Einswerdung wird das Gefühl des Geborgenseins, Getragenwerdens, Geliebtseins, das im Mutterleib als Mit- und Einssein erfahren wurde, wieder neu erlebt. Das Gefühl entsteht zu einem selbst, in die Mitte, in das eigentliche Wesen, um zu seinem Ursprung zurückzukommen, von dem man durch die Geburt getrennt wurde. Hier liegt die tiefere Bedeutung des Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies, der sich in allen Kulturen findet. „Im Mutterleib weiß der Mensch das All, in der Geburt vergißt er es“, heißt es in der jüdischen Mythologie. Die indische Mythologie kennt einen „goldenen und unvergänglichen Embryo“, einen Gott, der über das Leben herrscht. Die antike griechische Göttin Aphrodite ist die „Göttin des stillen Meeres“, die „Wonne des Naheseins und Einswerdens, deren Zauber die Berührung begrenzter Wesen zum Untergang des Ego im Grenzenlosen lockt.“ Keine Freude ist größer, als in die eigene Mitte zu kommen, eins zu werden und stimmig zu leben, Denken, Wollen, Fühlen, Reden und Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Das meinten die Stoiker, wenn sie davon sprachen, dass das „mit-sich-einstimmige Leben“ das höchste Ziel eines gelingenden Lebens sei.
Dieses Ziel wird aber erst erreicht, wenn die Stimmigkeit mit sich selbst, wenn sich die Geborgenheit im eigenen Innern im harmonischen Mitsein mit der Welt und den anderen Menschen vollendet. Tochter der Aphrodite ist die Harmonie. Erst diese Erfahrung ruft das Gefühl des ungeschiedenen Einsseins mit der Mutter wieder hervor. Das ist der tiefere Grund, warum der Mensch ein soziales Wesen ist und warum er nur im gelingenden Mitsein höchstes Glück und tiefste Freude erleben kann. Solches Mitsein ist erfüllte Liebe. „Im Anfang ist die Beziehung“, sagt Martin Buber.
Die indische Philosophie nannte diesen Zustand die Überwindung des Ego durch die Realisierung des eigenen Selbst. Das „Selbst“ ist das Göttliche in uns, ist „Atman“. Weil dieser „Atman“ zugleich die Weltseele, „Brahman“, ist, wird man in der richtig verstandenen „Selbst“-Verwirklichung eins mit der Welt, man findet sich wieder in jedem Menschen, in jedem Ding, in der Natur und in allem, was ist: „Das bist Du!“ (Tat tvam asi). Dieses Bewusstsein der tiefen Verbundenheit erzeuge Mitgefühl, Liebe und wahres Glück, so der Dalai Lama. „Wo wir lieben, da lieben wir, um eins zu werden mit der Weltseele“, heißt es in den Upanishaden, den heiligen Texten der Hindus.
Die klassische chinesische Philosophie lehrte, den „rechten Weg“, „Dao“ oder auch
„Tao“, zu suchen und zu finden. Er bestand darin, den Zwiespalt der polaren Kräfte Yin und Yang, die aus dem ursprünglich ungeteilten Dao hervorgegangen sind und alles Leben beherrschen, immer wieder zu einem harmonischen Ausgleich zu bringen.
Für die griechische Philosophie an ihrem Höhepunkt bei Platon war das letzte Ziel die Überwindung des Gegensatzes von Körper und Geist, um mit dem Guten, Schönen und Göttlichen in der Schau der ewigen Ideen eins zu werden. Nur so können negative Affekte überwunden werden und führen in ein glückliches und erfülltes Leben voller Freude. Das Bestreben Platons war die Herstellung einer Harmonie in Körper, Geist und in der Seele. Damit meinte der große Philosoph die Balance zwischen der Gesundheit, einem widerspruchsfreien Weltverstehen und der inneren Ausgeglichenheit – im einzelnen Menschen wie in der gesamten Gesellschaft.
Nichts anderes lehrte der Neuplatonismus, die Yogis in Indien, die Schamanen, die Druiden, die Sufis, die arabischen und christlichen Mystiker. Für all diese Richtungen war die Sehnsucht nach Verschmelzung und Einheit „Liebe“, ihre Erfüllung aber Glückseligkeit und unendliche Freude.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 116: „Leben, lieben, lachen"
Diese Zugewandtheit und Liebe zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zu der Welt kann der Mensch erlernen. Dies ist die Kernbotschaft aller Weisheitslehren in Ost und West. Sie entwickelten Übungen im Denken, Wollen, Fühlen und Handeln, deren kontinuierliche Praktizierung zu einer Veränderung und Transformation der Persönlichkeit führt. Diese Veränderung baut negative Prägungen und Affekte ab, überwindet Leiden, macht ganz und heil, weckt und kultiviert eine tiefe Freude am Leben. Je größer die Fähigkeit, zu lieben, wird, desto mehr fühlt man sich eins mit sich, den Mitmenschen und der Welt. In dieser Grundstimmung der Verbundenheit wird schließlich die Kraft und Energie, das Leben mit seinen vielfältigen Herausforderungen zu meistern, gefunden. „Ohne Liebe aber gibt es keine Verbindung“, lesen wir im Liji, dem „Buch der Riten“, einem der fünf konfuzianischen Klassiker. Und Menzius, der wohl bedeutendste konfuzianische Philosoph, merkte an: „Liebe ist der Menschen friedliches Heim.“
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