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Leben

In einem aufrichtigen Zwiegespräch kann man bei sich selbst ankommen. Die antiken Philosophen schätzten das gesprochene Wort mehr als das geschriebene.

Ist es nicht auffällig, dass einige der bedeutendsten Kulturstifter der Menschheit wie Sokrates, Buddha, Konfuzius oder Jesus kein einziges schriftliches Wort hinterlassen haben? Gleichwohl geht von ihnen bis zum heutigen Tag eine ungeheure Wirkung aus. Diese Wirkung verdankten sie ihrem Leben und dem „beseelten gesprochenen Wort des Wissenden“, wie es bei Platon heißt. Dieser lehnte es ab, das Wichtigste seiner Lehre schriftlich festzuhalten. Er war der Überzeugung, dass deren Essenz allein im persönlichen Gespräch übermittelt werden könne. Die unsterblichen Bücher, die er trotzdem verfasst hat, sind alle in Dialogform geschrieben.

Die philosophischen Schulen der Antike waren Lebensgemeinschaften, in denen das gemeinsame Nachdenken, die unmittelbare Auseinandersetzung und das wahrhafte Gespräch die wirksamste Form der Wissensvermittlung und Persönlichkeitsschulung darstellte. Nur im lebendigen Austausch von Angesicht zu Angesicht würden die Worte „wirklich in eine Seele eingeschrieben“ und „wie Samen im anderen gesät und gepflanzt“ werden, sagte Platon. So könnten sie aufblühen und Früchte tragen, das heißt praktisch werden. In einem Mythos, den Platon erzählt, weist der ägyptische Pharao das Geschenk der Schrift zurück, das ihm der Gott der Weisheit überbringt. Sie wecke die trügerische Vorstellung, so der Pharao, was man schriftlich besitze, sei damit auch schon praktisch wirkender Wissensbestand. Die Schrift könne die Entfaltung eines Gedankens im lebendigen Gespräch nicht ersetzen.

Wort

Sokrates verglich das Schreiben mit dem Malen und kritisierte, dass auch beim Malen die abgebildeten Menschen nicht lebten und auf Einwände und Fragen nicht antworten könnten. Wirkungsvoller sei daher das gesprochene Wort, das durch die zündende Kraft wahrer Geisteswirkung den Funken von einer Seele auf die andere überspringen lasse. Die Wissensdurstigen der Oberschicht im alten Rom nahmen wochenlange Reisen auf sich, um die großen Lehrer der griechischen Philosophenschulen persönlich zu hören, obwohl sie ihre Schriften kannten. Sie wussten, dass in Fragen der praktischen Philosophie und Lebensführung, der Herzens- und Charakterbildung der persönliche Kontakt durch kein Mittel ersetzt werden könne. Es gab in der Antike auch viele Wanderlehrer, die von Stadt zu Stadt zogen, um ihre Anschauungen im persönlichen Gespräch zu verbreiten und zu erklären, wie es auch Buddha, Konfuzius und Jesus taten.

Die Schrift könne die Entfaltung eines Gedankens im lebendigen Gespräch nicht ersetzen.

Daran kann man erkennen, wie wichtig der Antike das gesprochene Wort für die Vermittlung wesentlicher Einsichten, die Bildung der Persönlichkeit, die individuelle und gemeinsame Bewältigung von Lebensproblemen sowie für die Steigerung zwischenmenschlicher Lebensintensität war. Bis heute hat sich daran nichts geändert. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, sagt der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber, und dies geschehe durch die Gegenwart des Du im wahrhaften persönlichen Gespräch, der „Wiege des wirklichen Lebens“. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“

Die große Bedeutung des aufrichtigen Zwiegesprächs, in dem man unverstellt und zugewandt Fragen erörtert, die einen existenziell angehen, ergibt sich aus philosophischen, aber auch psychologischen Gründen. Eine der stärksten Prägungen, die Menschen auf ihrem Lebensweg erfahren, erhalten sie im Mutterleib, wo man ohne eigenes Zutun alles bekommt, was zum Leben gebraucht wird: Nahrung, Wärme, Schutz, körperlichen Kontakt, Getragen-Werden, ein Gefühl von Ganzheit und Mitsein, kurz: Geborgenheit. Es ist ein paradiesischer Zustand, aus dem man bei der Geburt gewaltsam vertrieben wird, um als erste Reaktion auf das „Licht der Welt“ entsetzt aufzuschreien und loszuheulen. „Im Mutterleib wisse der Mensch das All“, zitiert Buber einen jüdischen Mythos, „in der Geburt vergesse er es.“

Vielleicht ist es die größte Sehnsucht des Lebens, die „Urimpression“ vorgeburtlicher Geborgenheit in der weltlichen Existenz wiederherzustellen. Im Mutterleib befindet sich der Mensch „in einem umhüllenden, tragenden und bergenden Resonanzraum, indem er den Pulsschlag der Mutter hört und fühlt, von ihr umgeben und von ihrem Blutkreislauf durchströmt wird“, meint der deutsche Philosoph und Publizist Peter Sloterdijk.

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Hier findet man den tieferen Sinn des universalen Mythos vom Paradies, der in allen Kulturen anzutreffen ist. Im Wort Nostalgie scheint dieser Sinn bewahrt zu sein. Es leitet sich vom Griechischen „nostos“ – Rückkehr/Heimkehr und „algos“ – Schmerz ab. Die Nostalgie ist eine Art Heimweh, das schmerzliche Verlangen, nach Hause zurückzukehren, an den Ausgangspunkt – dorthin, von wo man hergekommen ist, in die Heimat, zum Ursprung, zu einem selbst. Deshalb umfasst das Wort „nostos“ bei Homer neben dem Schmerz der Ferne und Trennung auch etwas von der Süße einer Ankunft.

Es ist diese Sehnsucht, deren Erfüllung man sich im wesenhaften Gespräch annähert, je mehr es einem gelingt, dass ein Inneres zu einem anderen Inneren spricht, man den anderen durch seine Worte anrührt und von ihm angerührt wird. Auf diese Weise kommt es zu einem wohltuenden Mitschwingen, einem zwischenmenschlichen Flow. Man spürt den anderen und fühlt mit ihm. Indem der andere in der Tiefe seines existenziellen Seins wahrgenommen und verstanden wird und man sich von ihm wahrgenommen und verstanden fühlt, stellen sich Geborgenheit und ein Mitsein ein. Es hebt die beängstigende Empfindung des Alleinseins und der ungewollten Geworfenheit in eine verwirrende Welt auf. Alle Liebe, alle Sehnsucht nach Zweisamkeit, Partnerschaft, Familie und wahrer Freundschaft entspringt dem unbewussten Bestreben, den Zustand von tragender, schützender und nährender Geborgenheit wiederherzustellen, an das sich der Körper und die Psyche als eine Art Urerfahrung dunkel erinnert. Dort, im Schoß der Mutter, hatte man das beglückende und unvergessliche Erlebnis einer „ungeschiedenen, vorgestaltigen Urwelt“ erfahren, der Einheit des Seins. Dieses Erlebnis hinterlässt vielleicht die tiefsten und nachhaltigsten Spuren in der Triebstruktur unseres Geistes. Die Heimat, sagt Ernst Bloch, in der noch keiner gewesen sei, scheine einem aus der Kindheit her.

Häufig ist das Schweigen noch beredter als Worte.

Ein weiterer Aspekt betrifft die Erfahrung der mutterleiblichen Klangwelt. „Die Physiologie des Hörens als In-Mitschwingung-Versetzt-Werdens“, so Thomas Macho, begleitet als paralleles akustisches Erlebnis das Gefühl der Geborgenheit und bleibt für das ganze Leben mit einem verbunden. Es wird jeweils wieder wachgerufen im wesenhaften Gespräch, je aufrichtiger das Gesprochene aus den Tiefenschichten der Seele des Gegenübers warm und klangvoll herauftönt. In diesen Begegnungen ereignen sich Momente wesenhaften Seins. Solche Gespräche werden nicht nur mit Worten geführt, sondern mindestens genauso intensiv mit der Mimik und Gestik von Gesicht und Körper, dem Blick, dem Augenaufschlag und mit dem Fluss, der Lautstärke, Betonung und dem Rhythmus von Sprechen und Schweigen. Häufig ist das Schweigen noch beredter als Worte. Solche wesenhaften Gespräche gehören zu den kostbarsten Momenten eines gelingenden Lebens. Traurig ist es um die bestellt, die zu solchen Gesprächen nicht fähig sind.

Wie kann die Fähigkeit zum wesenhaften Gespräch erlangt werden? Durch ein Sprechen, das von Aufrichtigkeit, Authentizität, Selbsterkenntnis, Nähe zu sich selbst, Achtsamkeit, Offenheit und Zugewandtheit getragen wird; durch ein Sich-Öffnen und Anvertrauen, durch den Willen zur Wahrheit und dem Wunsch, dem Innersten und dem Wesen des anderen jenseits aller Oberflächlichkeit zu begegnen; den Willen, den Menschen hinter der Maske, die jeder trägt, zu sehen und zu spüren. Man will Wesentliches von ihm erfahren. „Nicht viel reden und achtsam zuhören“ kann daher der Weg zu einem wahrhaften Gespräch sein. Kleobulos von Lindos, einer der „Sieben Weisen“ der griechischen Antike, von dem der Ausspruch stammt, meinte damit, dass das aufrichtige Interesse und das Aufgeschlossensein für den anderen, sein Leben, seine Gedanken, seine Brüche und seine Fragen eine Einladung für die Seelen sein können, sich im Gespräch zu finden und Momente beglückender menschlicher Nähe zu erleben. Achtsames Zuhören eröffnet den Raum für ein solches ereignishaftes Sich-nahe-Sein. „Für den Stillen öffnet sich das Innerste des Hauses, und frei ist der Raum“, heißt es in einem ägyptischen Papyros aus dem 3. Jahrhundert vor unserer Zeit.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 115: „Rede mit mir!"

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Sprich zu mir: Lass uns für die Dauer eines Gesprächs einen Raum schaffen, in dem man unverstellt ganz sich selbst sein und sich mitteilen kann, in dem man für Momente eins werden und die tiefste Sehnsucht nach Geborgensein im Mitsein stillen kann. Wo das gelingt, wird „der Mensch am Du zum Ich“ (Buber). Im wesenhaften Gespräch erfährt man sich selbst und kommt bei sich an.

Dr. Albert Kitzler, Philosoph und Grün - der von „Maß und Mitte – Schule für antike Lebensweisheit“. Er bietet Seminare, Matineen, Vorträge, philo - sophische Urlaube sowie Einzel- und Unternehmensberatungen an und ist Autor zahlreicher Bücher. www.massundmitte.de

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Dr. Albert Kitzler

Dr. Albert Kitzler

Dr. Albert Kitzler, deutscher Philosoph, ist Gründer und Leiter von „Maß und Mitte – Schule für antike Lebensweisheit“. Er hält Vorträge, Seminare, philosophische Urlaube, berät Unternehmen und Einzelpersonen und versendet per täglichem, kostenlosem Newsletter kommentierte „Worte der ...
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