Sinnesfreuden maßvoll genießen, diese Empfehlung gibt ein Philosophen und Weisheitslehrer.
Wenn wir erforschen, was die Philosophen des Altertums zum Thema „Mit allen Sinnen“ gedacht haben, so finden wir wenig Verbindung zur heutigen Diskussion. Folgt man dem Soziologen Andreas Reckwitz, ist unsere Zeit geprägt von einer postmodernen „Positivkultur der Emotionen“, die überwiegend durch sinnliche Erlebnisse vermittelt wird. Sie folge dem vorherrschenden „Modell der erfolgreichen Selbstentfaltung“, der „neuen Norm spätmoderner Subjektivität“. Er mahnt zugleich, dass diese Kultur „in gesteigertem Maße negative Emotionen“ hervorrufe, nämlich Enttäuschung, Frustration, Überforderung, Wut und Angst. Er vermisse, so sein Fazit, eine „anerkannte Methode“, mit diesen leidvollen Gefühlen im Alltag umzugehen, und tragfähige Angebote für „eine weniger enttäuschungsanfällige Lebensform“.
Sinnliche Wahrnehmung weckt Verlangen.
Genau das bietet die antike Philosophie und Weisheitslehre in Orient und Okzident, ja hier lag ein Schwerpunkt ihrer Lebenskunst. Sie suchte nach Wegen für ein glückliches Leben und fand sie unter anderem darin, negative Affekte wie Angst, Sorge, Zorn, Ärger, Neid, Eifersucht, Gier oder negativen Stress abzubauen. In diesem Zusammenhang hat sie sich auch intensiv mit den Sinnen und den von ihnen hervorgerufenen Gefühlen auseinandergesetzt. Dazu soll hier einiges in Erinnerung gerufen werden.
Als mächtigsten Feind für ein glückliches Leben identifizierten die Denker des Altertums die durch sinnliche Reize hervorgerufenen Begierden. Manche verurteilten daher jegliches Wollen. So sah Buddha den Ursprung alles menschlichen Leids in dem „Verlangen nach Sinnesvergnügen“, dem „Durst nach den Lüsten der sechs Sinne“.
Die chinesischen Denker hielten den durch die Sinne vermittelten Genuss für eine „Gefährdung des Lebens“ und regten an, dass man eine „Kunst der wahren Wertschätzung des Lebens“ kultiviere. Die meisten griechisch-römischen Philosophen folgten der Auffassung Platons, dass die sinnliche Lust die Seele an den Leib „annagele und anhefte“. Wer sich ihr ungezügelt hingebe, habe nicht teil an tieferen Freuden und dem wahren Glück, nämlich einem Glück, das kein Leid im Schlepptau hinter sich herzieht, sondern nachhaltig und ungetrübt eine dauerhafte Freude am Leben sicherstellt.
Über den „Genuss, der durch sinnliche Reize gewonnen wird“, sagt der Dalai Lama: Wenn der Wunsch, irgendein „Verlangen zu befriedigen, uns zu beherrschen beginnt, verwandelt sich dieser Genuss schließlich in eine Art Leid. (...) Ich behaupte nicht, dass solche Freuden vollkommen wertlos sind. Ich will lediglich darauf hinweisen, dass die Befriedigung, die sie mit sich bringen, nicht von Dauer ist und einen Kreislauf des Verlangens anstößt, der sich ständig wiederholt. In der materialistischen Welt von heute, in der innere Werte oft vernachlässigt werden, wird die permanente Suche nach Sinnesreizen leicht zur Gewohnheit“.
Das Verlangen wird geweckt durch sinnliche Wahrnehmungen. Die Menschen sehen, hören, riechen etwas und wollen es haben und genießen. „Durch das Fenster kommt der Tod“, heißt es im Alten Testament. In den Upanishaden, dem philosophischen Teil der altindischen Veden, sind die Sinne die „Greifer“, die von „Übergreifern“, den weltlichen Dingen, „gefesselt“ werden. Der Schöpfergott Prajapati spricht dort: „‚Ich will die Objekte genießen!‘ Darum brach er die Löcher (der Sinne), trat durch sie heraus und genießt mittels der fünf Zügel die Sinnendinge.“
Buddha empfahl den Mittleren Weg zwischen strenger Askese und sinnlicher Ausschweifung.
Die Denker der Antike erkannten, wie schwer es den Menschen fällt, das durch die Sinne hervorgerufene Verlangen zu zügeln. Um Leid zu vermeiden, empfahlen sie, „die Löcher der Sinne zu verstopfen“. „Wer sich der Sinnenwelt verschließt [...], wen nicht berührt die Außenwelt [...], der findet in sich selbst das Glück“, heißt es in der Bhagavadgita. Wer seine Sinne austrocknet und das Tor nach außen verriegelt, wird dem Leid entgehen, lesen wir im Daodejing des Laotse. Auch Platon empfahl, die „Regungen der Sinne zu verachten“, weil uns die sinnliche Wahrnehmung über das wahre Wesen des Menschen und der Welt betrüge. Wolle der Mensch zur Wahrheit, Schönheit, zum Sein und zur Glückseligkeit aufsteigen, so habe er den Körper, das „Gefängnis der Seele“, zu ignorieren. Philosophie war für ihn „sterben lernen“. Der Mensch werde nur glücklich, wenn er sich „aus der Zerstreuung der Sinne, die stets zur Außenwelt drängen, in sich selbst sammelt“. Nicht in der sinnlichen, sondern in der geistigen Natur liege sein eigentliches Wesen. Nur dort finde er dauerhaftes Glück.
Die idealistische, geistbetonte Philosophie Platons findet eine Entsprechung in einer weitverbreiteten Auffassung der altindischen Philosophie. Einer der acht Aspekte in den Yogasutren des Patanjali ist das „Zurückhalten der Sinne von den Objekten“ (Pratyahara), das in der Meditation geübt werden soll. Nur die „Beherrschung der Sinne macht einen fähig zur Schau des eigenen Selbst“. Erleuchtung, Samadhi, erlangt, wer seine Sinne gemeistert hat und frei ist von Vorlieben und Abneigungen, ohne egoistische Bindungen an Menschen und Dinge, heißt es in den Upanishaden.
Stets geht es darum, dass die hervorgerufenen Begierden nicht das Leben beherrschen.
Die radikale Abkehr von sinnlichen Genüssen, die hier anklingt, war jedoch nicht die herrschende Strömung in der antiken praktischen Philosophie. Meistens begnügte man sich damit, die sinnlichen Begierden zu zügeln, zu beherrschen und maßvoll zu befriedigen. Schon Buddha empfahl den Mittleren Weg zwischen strenger Askese und sinnlicher Ausschweifung. Interessanterweise findet sich im griechischen, indischen und chinesischen Weisheitsdenken das Bild vom Wagenlenker. Der Lenker ist die Vernunft, die Rosse sind die sinnlichen Begierden und die Zügel der Wille. Stets geht es darum, dass die durch die Sinne hervorgerufenen Begierden nicht das Leben beherrschen, sondern dass wir es entsprechend den von uns erkannten Werten steuern und gestalten. Wir sollen Herr im eigenen Haus sein. „Durch strenges Denken zügle man / Der unbotmäß’gen Sinne Schar. / Allmählich tritt die Ruhe ein, / Wenn die ‚Vernunft’ man fest ergreift, / Das ‚Denken’ in das Selbst versenkt, / So dass es hin und her nicht schweift“, heißt es mehrfach in der Bhagavadgita. Gleiches findet sich in allen Weisheitstraditionen.
In dem Zitat klingt auch an, worum es dabei vor allem ging, nämlich die Seelenruhe, die in der Antike für Lebensglück steht. „Wessen Sinne in Ruhe sind, wie Rosse, wohl gebändigt vom Lenker [...] (wer) alle Unreinheit überwunden hat, den also Vollendeten beneiden die Götter selbst“, heißt es im Dhammapada, der Sammlung mit wichtigen Lehrsprüchen Buddhas. „Aufgrund der inneren Ruhe erlangt man unübertreffliche Freude“, sagt Patanjali in den Yogasutren. Den Weg dorthin, die „Zügelung der Rosse“, verstanden sie als eine innere Reinigung, eine „Übung der Sinne durch Erfahrung und Praxis“ (Platon). Durch sie lerne man, nur solche sinnlichen Genüsse zu wählen, die uns nähren und dauerhaft guttun, die selbstschädigenden aber zu meiden. Wem diese Kunst gelinge, sei wahrhaft glücklich.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 121: „Mit allen Sinnen"
Immer geht es um Maß und Mitte, und diese werden gewahrt, indem man regelmäßig meditiert und kontinuierlich achtsam ist bei allem, was man tut. Ein Meister der Teezeremonie beschreibt diesen Reinigungsprozess: „Der eigentliche Zweck der Teezeremonie ist, die sechs Sinne zu reinigen. Die Schriftrolle und das Blumenarrangement erfreuen das Auge, der Duft der Räucherstäbchen die Nase. Der Klang des sprudelnden Wassers und der Geschmack des Tees wirken beruhigend auf Ohr und Mund. Die Hände und Füße konzentrieren sich auf die vollendete Ausführung der Bewegungen. Wenn man die fünf Sinne auf diese Weise reinigt, wird auch die Seele gereinigt. Die Teezeremonie entspannt die Seele.“
Die Weisen in Ost und West suchten nicht die „Lust in der Bewegung“, indem sie die Sinne ständig reizten und befriedigten. Sie bevorzugten die „Lust in der Ruhe“, in der das sinnliche Erlebnis durch ein erleuchtetes Bewusstsein zu einer tiefen inneren Freude ohne Reue und Leid umgewandelt wird.
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