Was ich auf einem Meditationsseminar in Nepal gelernt habe – und worauf ich dabei aufpassen musste.
Es ist sechs Uhr fünfundvierzig am Morgen, ich sehe nichts als flimmerndes Schwarz. Meine Hände liegen im Schoß, meine Beine sind im Schneidersitz verschränkt. Mein Rücken ist gerade, so gut es eben geht. Das Kinn habe ich leicht nach vorn geneigt, meine Augen geschlossen. Die breite Basis des Schneidersitzes, der gerade Rücken – das alles soll dem eigenen Geist dabei helfen, wach zu sein und zu fokussieren.
„Was nervt uns?“, fragt eine weibliche Stimme in den Raum. Es sei gut, dies mit jedem Ausatmen herauszulassen. Dann sollen wir an etwas Positives denken, zum Beispiel an Mitgefühl, und dieses mit dem nächsten Atemzug einatmen. Einatmen. Ausatmen.
Der Raum um mich ist riesig. Sechs orange getünchte Säulen stützen die Decke, reich verziert mit Symbolen des tibetischen Buddhismus. Auf dem dunklen Holzboden liegen bunte Kissen, die fast alle besetzt sind. Dazwischen stehen ein paar rote Plastikstühle für all jene, denen das Sitzen auf dem Boden doch zu viel ist.
Einige Dutzend Leute, die meisten aus Europa und den USA, haben sich entschieden, im Kloster Kopan am Stadtrand von Katmandu einen fünftägigen Crashkurs im Buddhismus zu absolvieren. Seit mehreren Jahrzehnten ist der Kurs in Nepal ein Fixpunkt, wenn es darum geht, den Buddhismus einem westlichen Publikum näherzubringen. Dabei unterrichten zwei buddhistische Nonnen aus dem Westen abwechselnd theoretische Grundlagen und praktische Übungen.
Im Altarraum ist es ruhig und friedlich. Nur leises Vogelgezwitscher dringt in den Saal. Mein Sitznachbar wechselt hie und da seine Position. Davon abgesehen, ist alle Aufmerksamkeit bei der Stimme der Nonne, die sanft durch die Meditation führt.
Einatmen. Ausatmen. Das Sitzen ist überraschend angenehm. Das Entspannen und Vereinfachen gelingen ziemlich gut. Wie oft sitzt man einfach nur? Und es fällt viel leichter als gedacht. Vielleicht sollte ich das öfter machen, geht es mir durch den Kopf. Wenn ich jeden Tag meditieren würde, ja vielleicht sogar zweimal am Tag ... Oder ich könnte einen längeren Kurs hier machen ...
„Bleibt im Moment“, unterbricht die Nonne meinen Gedankenlauf. Jetzt ist die Zeit, sich auf den Atem zu konzentrieren, um den permanenten unkontrollierten Gedankenfluss abzustellen.
Dafür sind die Tage im Kloster klar strukturiert. Es gibt drei einfache Mahlzeiten pro Tag, immer zur gleichen Stunde. Ab dem Abendessen bis nach dem nächsten Mittagessen wird geschwiegen. Manche Teilnehmer tragen ein gelbes Band an der Brust, sie wollen den ganzen Kurs lang schweigen.
Der Kurs in Kopan richtet sich an Neulinge des Buddhismus, die einmal in einem Klosterumfeld die Grundkonzepte kennenlernen und die Meditation ausprobieren wollen. In den Lehreinheiten werden klassische Themen wie die Vier Edlen Wahrheiten vermittelt – das Leiden und dessen Aufhebung, die Geschichte des Buddha, Karma, Reinkarnation und Leerheit. Der strukturierte Alltag macht es leicht, sich auf die Inhalte zu konzentrieren. Fünf Tage lang heißt es nur: sitzen, essen, schlafen.
Dabei ist das Setting nicht ganz authentisch. Meditationssitzungen gibt es in dieser Form traditionell im tibetischen Kloster außerhalb von Retreats in der Regel nicht, vor allem nicht bei den Gelugpas, also jener tibetischen Schule, der das FPMT angehört. Das FPMT ist die Mutterorganisation des Klosters Kopan. Die Abkürzung steht für „Foundation for the Preservation of the Mahayana Tradition“. Es wurde 1975 von den beiden tibetischen Mönchen Lama Yeshe und Lama Zopa gegründet.
Mit dem Konzept, Lehr- mit Meditationseinheiten zu verbinden, wollten die beiden Gründer auf die Bedürfnisse des wachsenden westlichen Publikums eingehen. Seit dem Tod Lama Yeshes 1984 steht Lama Zopa an der Spitze. Mittlerweile gibt es ungefähr 150 Zentren weltweit. Das Kloster Kopan in Nepal ist bis heute so etwas wie das Mutterschiff dieser internationalen Organisation. Vor der Coronapandemie besuchten phasenweise über hundert Menschen diesen berühmten Kurs.
Gerade in den vergangenen Jahren stand das FPMT allerdings auch in der Kritik: Dem Vorwurf nach herrschten autoritäre Strukturen – man müsste dem Willen Lama Zopas bedingungslos folgen. Als einem hochrangigen tibetischen Lehrer des FPMT vor einiger Zeit sexuelle Übergriffe auf Schülerinnen vorgeworfen wurden, hätte die Organisation nur zögerlich reagiert. Erst als der Betroffene in Indien angeklagt wurde, musste er seine Lehrtätigkeiten einstellen. Eine Welle an Austritten folgte.
All das ist nicht Thema im Grundkurs. Allerdings sprach die Lehrende am Ende eine allgemeine Warnung aus, dass es auch in buddhistischen Einrichtungen zu sexuellem Missbrauch gekommen sei, ohne die Vorfälle beim FPMT zu benennen.
Für die Zeit des Kurses wird ein Umfeld geschaffen, in dem weltliche Belange beiseitegeschoben werden. Nicht buddhistische Bücher, aber auch das Handy bleiben draußen, damit sich alle ganz auf die buddhistische Lehre und Praxis konzentrieren können.
Die Meditationshalle des Klosters Kopan, in der wir täglich meditierend viele Stunden verbrachten.
Die Nonne sitzt uns gegenüber im Schneidersitz auf einem Podest. Sie trägt rote Roben, ihre Haare sind kurz geschoren. Hinter ihr lacht der Dalai Lama von einem Foto, es ist flankiert von zwei Fotografien der beiden Gründer. Über dem Dalai Lama lächelt wiederum eine riesige Buddhastatue durch den ganzen Raum.
Warum überhaupt meditieren? Die Nonne erklärt unterschiedliche Formen der Meditation. Bei allen fungiert der Atem als Anker – leider ein schwacher, wie sie warnt. Meditieren, das kann man nicht einfach so. Man muss viel üben und trainieren. So bedeutet das tibetische Wort für Meditation auch „kultivieren“, „sich gewöhnen“.
Das Ziel der buddhistischen Meditation ist nicht, Stress zu reduzieren. Am Ende geht es darum, durch die richtige Analyse und Erfahrung der eigentlichen Realität zu erwachen. Und das ist nur mit einem stark fokussierten Geist möglich. Erfahrene Praktizierende könnten stundenlang in jener Konzentration verweilen, die erforderlich ist, um den Geist zu untersuchen.
Je mehr Stunden ich auf dem Sitzkissen verbringe, desto schwerer ist das vorstellbar. Am Anfang des Kurses saßen alle Teilnehmer noch in der Mitte des Raums im Schneidersitz auf ihren Kissen. Doch mit den Stunden und Tagen bewegte sich die Gruppe immer mehr auseinander. Die Ersten lehnten sich an die Säulen, die Nächsten an die Wände. Zum Ende hin waren keine Stühle mehr frei, dafür aber viele Kissen.
Auch bei mir hat sich der trügerische Enthusiasmus des Anfangs in Luft aufgelöst. Meine Beine kribbeln permanent, mein unterer Rücken schmerzt, ich kann kaum noch stillsitzen. Verflogen sind alle guten Vorsätze, die mich anfangs mit so viel Inspiration erfüllt hatten. Immer häufiger ertappe ich mich beim Gedanken daran, wann denn bloß der Gong ertönen würde.
Mit der Zeit, so hat die Nonne erklärt, werden alle Dinge, denen man sich aussetzt, zu Leiden. Denn das ist die Natur der Dinge im Samsara. Neben den körperlichen Auswirkungen bemerke ich, wie es mir jeden Tag schwerer fällt, mich zu konzentrieren. Meine Beine werden nicht ruhiger, sondern unruhiger, meine Arme nicht schwerer, sondern ungeduldiger, meine Gedanken nicht weniger, sondern sie kommen und gehen wie eh und je.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 123: „Buddha heute"
Und so brachte das tägliche Sitzen eine andere Veränderung als erwartet: In meinen Träumen war nichts mehr los. Nach wenigen Tagen träumte ich keine fantastischen Szenen mehr, die nur im Traum Sinn ergeben. Stattdessen spielten sich Banalitäten ab, die eins zu eins im echten Leben hätten stattfinden können, ganz so, als hätte mein Geist in der Nacht nichts zu verarbeiten.
Auf dem roten Kissen mit dem schwarzen Flimmern vor den Augen muss ich am Ende an eine der Sechs Vollkommenheiten denken. Gerade haben wir einen Vortrag über jene Eigenschaften gehört, die einen Buddha ausmachen. Eine davon ist die Geduld. Die meisten Meditationssessions verändern nicht unser Leben. Meistens sind wir mit einem zerstreuten Geist konfrontiert und können keinen ersichtlichen Nutzen im Sitzen erkennen. Doch gerade dann gilt es, Geduld zu üben. Denn eine Wirkung hat die Praktik auf jeden Fall.
„Bleibt im Moment“, höre ich schon die mahnende Stimme. Also noch einmal zurück zum Atem. Einatmen. Ausatmen.