Neuerdings halte ich Ausschau nach fremden Begegnungen, die ich in ein Gespräch verwickeln könnte. Egal ob im Restaurant, in der U-Bahn oder auf dem Wochenmarkt – niemand ist mehr vor mir sicher.
Zielstrebig nehme ich Augenkontakt auf, riskiere ein Lächeln und streue dann die ersten Lockworte aus. „Darf ich Sie etwas fragen?“ Schon erfahre ich, dass der junge Soldat neben mir für seine theoretische Prüfung paukt und in Uniform umsonst reisen kann. Oder von jemandem, der vor mir in der Schlange zehn Schokocroissants bestellt, höre ich: Sein Kollege hat heute Geburtstag. Nicht jeder beißt an, aber das macht nichts, denn ich genieße einfach schon die kleinste Form von Austausch. Den Impuls erhielt ich aus einem Buch, das mich davon überzeugt hat, wie belebend es wirkt, im öffentlichen Raum Kontakt mit Fremden aufzunehmen. Es heißt „The Power of Strangers“, von Joe Keohane. Wenn ich früher mit Freunden auf Reisen war, habe ich im Stillen immer diejenigen bewundert, die sich an jeder Straßenecke bei Einheimischen Auskunft holten. Sie hatten an fremden Orten blitzschnell die volle Orientierung. Ich dagegen hielt mich für zu scheu, um andere einfach anzusprechen. Ich war fest davon überzeugt, dass die meisten Menschen ihre Ruhe haben wollen.
Jetzt habe ich gelernt, dass es für jeden ein Wagnis ist, auf fremde Begegnungen zuzugehen, dass es einen Extrakick braucht, um die inneren Hemmungen zu überwinden. Wenn der Anfang gemacht ist, geht es meist erstaunlich leicht. Miteinander ins Gespräch zu kommen weckt Freude, bewirkt ein Gefühl von Trost und Zugehörigkeit. Wir erkennen, wie freundlich und gutherzig andere sind, und fühlen uns gleich besser aufgehoben. Vertrauen und Optimismus sind die Schlüssel, um auf Fremde zuzugehen. Wer sich wohlfühlt, kann leichter seine innere Zurückhaltung loslassen und sich für Begegnungen mit Unbekannten öffnen. Die Meditation der liebenden Güte, Metta, kann uns hier eine ganz besondere Unterstützung sein, denn Metta stärkt die Wertschätzung für sich selbst und andere. Wir beenden unsere Morgenmeditation mit der Absicht, beim Hinausgehen in die Welt den Menschen in die Augen zu schauen und ihnen einen guten Wunsch zu schicken: „Möge dies ein glücklicher Tag für dich sein. Mögest du sorgenfrei sein. Mögest du dich gesund und kraftvoll fühlen.“
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 124: „Frei Sein!"
Wir können sie anlächeln, im Geiste „Schön, dich zu sehen!“ denken und eine neugierige Frage an diese Person formulieren. So wachsen wir langsam hinein in die Fähigkeit, mit Fremden in Kontakt zu kommen.Und wenn wir nicht auf die Metta-Meditation zurückgreifen möchten, könnte es auch schon genügen, sich vorzustellen, wie er oder sie in einem glücklichen Moment, vielleicht auf einer Geburtstagsfeier, nach der Geburt seines Kindes oder auf einem Siegerpodest voller Freude strahlt. Das bewirkt etwas in uns. Sehr bald werden wir merken, dass sich das Echo, das wir empfangen, ändert, wenn wir selbst offen und interessiert in die Welt hinausschauen.
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