Drei hervorragende LehrerInnen wagen ein Experiment. Sie kommen aus verschiedenen buddhistischen Traditionen, Tilmann Lhündrup aus der tibetischen Kagyü-Schule, Ursula Flückiger aus dem ursprünglichen Buddhismus, dem Theravada, und Fred von Allmen aus beiden.
Gemeinsam mit einigen MeditationschülerInnen begeben sie sich in zwei einwöchige Retreats. Das Ergebnis dieser beiden Reisen sind die vorliegenden, im Norbu Verlag herausgegebenen Texte. Dieser Verlag veröffentlicht vorwiegend traditionelle buddhistische Literatur der Kagyü-Linie. Seit 2013 werden auch traditionsübergreifende Darstellungen zeitgenössischer Autoren publiziert. Und um eine solche Darstellung handelt es sich bei diesem Buch.
Die Herausforderung: Zwei uralte buddhistische Weisheitsmethoden werden nebeneinander unterrichtet, das Gemeinsame und das Unterschiedliche sollen sowohl theoretisch als auch praktisch ausgelotet werden. Bei den beiden Methoden handelt es sich um Vipassana, die von Buddha beschriebene Einsichtsmeditation, und Mahamudra, das ‚Große Siegel‘, das auch als Essenz des Tibetischen Buddhismus gesehen wird.
Fred von Allmen bringt es in der Einleitung so auf den Punkt: „In der Zugangsweise des Theravada-Vipassana handelt es sich um einen Prozess, in dem man von A nach B geht. Erst kultiviert man eine präzise Achtsamkeit, dann kommt es zu einem Loslassen und die befreiende Erfahrung eines Unbedingten, Nicht-Konditionierten findet statt. Mahamudra hingegen ist ein Prozess von A nach A. Das, was wir suchen oder verwirklichen wollen, ist immer schon da.“ Und auf noch etwas wird gleich in der Einleitung hingewiesen. „Es sollen auch die gegenseitige Wertschätzung und der Respekt unter den Praktizierenden gefördert werden. Die im asiatischen und bereits auch im westlichen Buddhismus weitverbreitete Tendenz zu Sektiererei – ‚meines ist das Beste, das einzig Richtige und genau das, was der Buddha lehrte ...‘ – wird durch diese Methoden- und Schulenzusammenführung gemildert.“ Das halte ich für besonders wichtig.
Die Methode: Das Buch folgt der Struktur des Ablaufes der beiden Retreats. Es werden nicht nur die in den Kursen gegebenen Belehrungen, sondern auch alle geleiteten und stillen Meditationen sowie Fragen und Antworten beschrieben. Die Texte können daher von den LeserInnen nicht nur intellektuell, sondern auch kontemplativ-meditativ nachvollzogen werden.
Auszug aus den Inhalten: ‚Gelöstes Sein‘, ‚Unbeschwert – mit unerwünschten Emotionen‘, ‚Abhängiges Entstehen und Meditation‘, ‚Vipassana und Mahamudra im Vergleich‘ und ganz, ganz viele andere wichtige Themen des Buddhismus.
Was mir am besten gefallen hat: Im Kapitel ‚Selbst oder Nicht-Selbst: wer sind wir wirklich?‘ wird ein chinesischer Ausspruch zitiert, der eindrucksvoll zeigt, wie komplex es ist, zum höchsten Ziel des Buddhismus zu gelangen: „Es ist sehr schwer, eine schwarze Katze in einem völlig dunklen Raum zu finden – vor allem, wenn gar keine drin ist.“ Das finde ich sehr schön.
Anmerkung: Vorkenntnisse in buddhistischer Philosophie und Meditationspraxis sind keine Voraussetzung für dieses Buch, aber sicher günstig.
Persönliche Beurteilung: Ich habe die Texte sehr interessant gefunden und selbst nach jahrzehntelanger eigener Praxis viel Neues erfahren. Diese beiden gegensätzlichen Methoden wurden in so dichter und umfassender Weise vermutlich noch nie zuvor gemeinsam dargestellt. Das ist für mich das Einzigartige an diesem Werk.
Und noch etwas möchte ich hervorheben: Buddhismus wird heute oft als eine Möglichkeit beschrieben, mit der man zu etwas mehr Ruhe und Wohlbefinden gelangen kann. Dass Buddhismus noch viel mehr ist, nämlich ein Weg und eine Methode zur endgültigen Befreiung aus allem menschlichen Leiden, wird durch diese Darstellung von ‚Mahamudra und Vipassana‘ auf besonders eindrucksvolle Weise klar.
Allgemeine Beurteilung: Ein wirklich lesenswertes und wichtiges Buch für alle, die sich etwas tiefer mit Meditation und buddhistischer Philosophie beschäftigen wollen.
Norbu Verlag 2015
403 Seiten
Rezensent: Peter Riedl