Was sind „Zen-Gedichte“? Texte, die diesen Namen verdienen, haben eine jahrhundertelange Tradition, etwa die „Gedichte vom Kalten Berg“ eines anonymen Einsiedlers aus der Zeit der chinesischen Tang-Dynastie, die „Gedichte von der Verrückten Wolke“ des japanischen Zen-Meisters Ikkyu Sojun sowie die Gedichtsammlung „Eine Schale, ein Gewand“ des ebenfalls aus Japan stammenden Zen-Meisters Ryokan.
Auch die „Lobgesänge“ in den großen Koan-Sammlungen „Bi-yan-lu“, „Cong-rong-lu“ und „Wu-men-guan“ als fester Bestandteil jedes einzelnen Koan-Kapitels zählen dazu. In all diesen Texten spiegeln sich die intensiven Erfahrungen von Menschen wider, deren Leben zutiefst von der Chan- beziehungsweise Zen-Übung bestimmt gewesen ist.
So auch hier: Der Autor Dietrich Roloff nimmt 1987 in Roseburg an seinem ersten Zen-Sesshin teil, einem traditionellen, intensiven Zazen-Training mit Lehrern, die in der Rinzai-Tradition stehen. Für ihn als Anfänger sind die Koan des Wu-men-guan obligater Übungsgegenstand. Als Textsammlung und Notizbuch zugleich nutzt er das Taschenbuch „Zu den Quellen des Zen“ von Shibayama Zenkei. Es wird zu einem Dokument seiner Kensho-Erfahrungen, seiner Erweckungserlebnisse. Nicht nur vorbereitende Überlegungen, auch seine Einsichten beim Lösen der Koans versucht er, in Worte zu fassen – ein verwegenes Unterfangen. Seine Notizen in dem Buch sind der Urtext seiner nun vorliegenden Zen-Gedichte.
Wenn nun diese Gedichte in Buchform veröffentlicht werden, dann verbindet Dietrich Roloff damit die Hoffnung, dass sich ihre Kraft als hilfreiche Anregung auch weniger trainierten Zen-Anhängern und -Interessenten wegweisend erschließt.
Aber noch einen weiteren, gewichtigeren Grund hat diese Veröffentlichung, und der hängt mit dem in Zen-Kreisen oft zitierten Grundsatz des Qing-yuan Xing-si zusammen: „Vor dem Erwachen sind die Berge Berge und die Flüsse Flüsse; während des Erwachens sind die Berge keine Berge und die Flüsse keine Flüsse mehr; und nach dem Erwachen sind die Berge wieder Berge und die Flüsse wieder Flüsse.“ Alles theoretische Gerede über das Besondere des Erwachens (chinesisch Wu, japanisch Satori oder Kensho) vermag nämlich keinen, unmittelbar ins menschliche Herz treffenden Eindruck zu vermitteln. Das kann nur ein Gedicht.
Rezensent: Josef M. Huber
Dietrich Roloff
Zen und Zeit: Der breite Strom Veränderung – Nachgedanken eines in die Jahre Gekommenen
BoD – Books on Demand 2020
288 Seiten
Print 19,90 €, E-Book 9,90 €
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