Achtsamkeit heißt das neue Modewort in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Klingt gut. Doch was mit Achtsamkeit gemeint ist und wobei sie hilft, weiß kaum jemand. Die Geschichte der Achtsamkeit im Westen liest sich wie eine einzigartige buddhistische Erfolgsgeschichte.
Kein anderes originär buddhistisches Konzept hat jemals einen solchen Eingang in den Mainstream der westlichen Gesellschaft gefunden wie die Achtsamkeit.
Der vietnamesische Zen-Meister und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh sieht in der Achtsamkeitsmeditation die Energie des Gewahrseins und des Erwachens zur Gegenwart. Es ist die fortwährende Übung, das Leben tief in jedem Augenblick zu berühren. Der amerikanische Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn entwickelte sogar aus der buddhistischen Achtsamkeitslehre ein achtwöchiges Programm der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion das er bereits 1979 zunächst in seiner Klinik zur Behandlung für stressgeplagte Patienten einsetzte. Dieses strukturierte Programm, das unter anderem Meditation, Yoga, Bodyscan in der Gruppe und im individuellen täglichen Üben umfasst, sollte Menschen helfen, die unter Stresserkrankungen oder chronischen Schmerzen litten. Doch es war definitiv sein Anliegen, Aspekte der buddhistischen Lehre so zu präsentieren, dass sie von den Menschen unserer Kultur unmittelbar verstanden und angewendet und ihr Nutzen und Heilungspotenzial direkt erfahren werden können – und dazu säkularisierte er das Konzept der Achtsamkeit zu einer Art kulturneutralen Methode. Und in dieser Form hat Achtsamkeit, entkernt von seinen buddhistischen Dimensionen, den Weg in die Mitte der Gesellschaft überaus erfolgreich angetreten.
Das Konzept der Achtsamkeit ist inzwischen auch nicht mehr aus Teilen der Psychotherapie wegzudenken, da es sich bei diversen psychischen Störungen als erfolgversprechende Intervention erwiesen hat, so etwa bei Angst-, Ess- und anderen Zwangsstörungen oder bei Depressionen. Es gibt erste Schritte, auch in Schulen und der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Achtsamkeit einzusetzen und zu vermitteln. Und selbst im medizinischen Bereich könnte Achtsamkeit über die Ebene von Stressreduktion und einem besseren Umgang mit physischen Schmerzen hinaus noch eine weitergehende Rolle spielen. Jon Kabat-Zinn berichtet in Die heilende Kraft der Meditation (Arbor Verlag) von einer selbst durchgeführten Studie, die gezeigt hat, dass Achtsamkeitsmeditation den Heilungsprozess bei Psoriasis beeinflussen kann. Es muss also im Geist etwas geschehen, was den Heilungsprozess in der Haut sehr stark beeinflusst und sogar auf der Ebene der Gene wirkt, da dort die Zellvermehrung kontrolliert wird. Achtsamkeitstrainings gibt es mittlerweile in den USA sogar schon im Militärdienst, da von der berechtigten Annahme ausgegangen wird, dass achtsamkeitsgeschulte Soldaten nicht so schnell in Panik geraten und in Gefahrmomenten blind um sich schießen oder anderswie gewalttätig agieren. Achtsamkeit ist die gängigste deutsche Übersetzung des Pali-Begriffs sati (Sanskrit smrti). Der Buddha griff dabei einen Begriff aus den Vedas auf, der im Sinne von erinnern, sich besinnen, ins Gedächtnis rufen verwendet wurde und der dann durch ihn eine Bedeutungsverschiebung respektive -erweiterung erfuhr. Mögliche andere Übersetzungen für sati sind: Geistesgegenwart, Gewahrsein, Gewahrbleiben, Vergegenwärtigung, Wachsamkeit, Innewerden, inneres Augenmerk, Präsenz (so der Meditations- und Dhamma-Lehrer Akincano Marc Weber). Während im Englischen für sati eine Art Kunstwort, mindfulness, kreiert wurde, hat man im Deutschen auf das Wort Achtsamkeit zurückgegriffen, das es im Sprachgebrauch bereits in der Bedeutung von Obacht und Achtgeben gab und das jetzt seinerseits eine Bedeutungsverschiebung erfährt. Zur begrifflichen Verwirrung trägt auch bei, dass im Deutschen oft die Begriffe Achtsamkeit und Aufmerksamkeit verwechselt werden.
Die Kraft der Achtsamkeit angesichts von (Lebens-)Gefahr haben auch die Nonnen und Mönche um den zen-buddhistischen Lehrer, Friedensaktivisten und Poeten Thich Nhat Hanh während des Vietnamkrieges erfahren, als sie, häufig zwischen den Fronten agierend, den Kriegsopfern beistanden, Sozialarbeit noch in den entlegensten Gegenden leisteten und dabei vielfach über ihre Grenzen gingen und sich erschöpften. Thich Nhat Hanh machte ihnen immer wieder klar, wie wichtig gerade in solchen belastenden Situationen die Achtsamkeit ist, nicht zuletzt, um überhaupt zu merken, wie es um sie bestellt war, und um mit den heftigen Gefühlen von Wut, Trauer, Hilflosigkeit umzugehen und sie zu transformieren. Achtsamkeit erwies sich für die meisten der sehr jungen Mönche und Nonnen als eine bedeutsame Kraftquelle. Später, im französischen Exil, in dem Thich Nhat Hanh seither in der von ihm gegründeten Gemeinschaft in Plum Village lebt, schrieb der Zen-Lehrer Das Wunder der Achtsamkeit. Es machte ihn als den buddhistischen Lehrer aus dem asiatischen Raum bekannt, der buddhistische Inhalte einem westlichen Interessentenkreis auf eine sehr verständliche, praktikable, fast poetische Weise vermittelt, ohne sie dabei zu entkernen und zu säkularisieren – und dies tut er, mittlerweile 85-jährig, bis heute in Retreats, Vorträgen und zahlreichen Büchern. Das Wunder der Achtsamkeit zu erfahren bedeutet für Thich Nhat Hanh, das Wunder des Lebendigseins im Hier und Jetzt zu erfahren.
Das Wunder der Achtsamkeit erleben wir, wenn wir beispielsweise draußen in der Natur sind und uns ganz öffnen für das, was um uns herum geschieht – und wir auf einmal den Tautropfen auf dem Blatt vor unseren Füßen entdecken oder die Ameisen, die beladen mit Lasten, die viel größer und schwerer sind als sie, zu ihrem Hügel eilen. Wir entdecken sie, wenn wir nach einem Achtsamkeitstag nach draußen treten und uns die Farbigkeit und Lebendigkeit der Bäume, Blätter oder auch der Autos und Häuser nahezu entgegenspringen. Wir erleben sie, wenn wir an einem Meditationsabend aufgefordert werden, einen Apfel- oder Orangenschnitz ganz achtsam zu essen oder – wie in den MBSR-Kursen – eine kleine, schrumpelige Rosine. Eine ganz neue Welt eröffnet sich da, bunter, vibrierender, geruchs- und geschmacksintensiver, als wir sie gemeinhin erleben. Unsere Sinne sind unsere Tore zur Welt. Verbinden wir unsere Sinneswahrnehmungen mit Achtsamkeit, sind wir gegenwärtig und wach für oder besser mit dem, was wir über die Sinne erfahren, und wir treten in diese Welt ein – und staunen, wie lebendig sich all das ausnimmt, was wir vielleicht schon Tausende Male gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt und gefühlt haben.
Achtsames Atmen
Ich atme ein und weiß, dass ich einatme.
Ich atme aus und weiß, dass ich ausatme.
Wenn sich mein Einatmen vertieft,
wird mein Ausatmen langsamer.
Einatmend beruhige ich meinen Körper.
Ausatmend fühle ich mich entspannt.
Einatmend lächle ich.
Ausatmend lasse ich los.
Im gegenwärtigen Moment verweilend,
weiß ich, dies ist ein wundervoller Moment.
(Thich Nhat Hanh)
Thich Nhat Hanh spricht oft von der Verabredung, die wir mit dem Leben haben. Und die kann, so sagt er, nur in der Gegenwart stattfinden. Wie oft verpassen wir sie aber, weil wir mit unseren Gedanken überall sind, nur nicht in der Gegenwart. Das Projekt Achtsamkeit besteht von daher zu einem großen Teil darin, den Geist mehr und mehr in der Gegenwart zu verankern, ihn mithin dorthin zu bringen, wo der Körper immer ist – hier, jetzt. Und sich dann mit dem gewählten Objekt der Achtsamkeit zu verbinden, sei es der Körper, seien es die Sinneswahrnehmungen, die Gefühle, die Gedanken – und geduldig dabei zu bleiben und immer wieder dorthin zurückzukehren. Mehr gibt es nicht zu tun. Doch gerade das erscheint dem Geist oft genug unerträglich und langweilig. Die Kunst der Achtsamkeitspraxis liegt im Wesentlichen darin, das Interesse dieses so schnell gelangweilten und nach Neuem gierenden Geistes an dem jeweiligen Objekt wachzuhalten und ihn geduldig immer wieder darauf auszurichten. Achtsam sein ist für die meisten von uns nicht schwierig, zumindest für kurze Zeitspannen. Diese immer mehr auszudehnen, um aus den kleinen Oasen der Achtsamkeit blühende Wiesen und Felder der Achtsamkeit zu machen, die immer mehr Teile unseres alltäglichen Lebens umfassen – auch das gehört zu dieser Kunst. In formaler Meditation ist oftmals die Ausrichtung auf den Atem das Mittel, um den Geist zur Ruhe zu bringen, zu sammeln und in der Gegenwart zu verankern. Auch im Alltagsleben kann der Atem als Objekt der Aufmerksamkeit gute Dienste leisten. Das Besondere ist: Bei allem, was man tut, kann man sich gleichzeitig des Atmens bewusst sein und diese Konzentration je nachdem mehr im Vorder- oder Hintergrund des Bewusstseins halten. Abhängig davon, was einem wichtig ist, kann man die Schärfe des Bildes immer wieder neu einstellen. Damit behält man gewissermaßen sich selbst im Blick, ohne die Außenwelt aus selbigem zu verlieren. Ob beim Gang zum Bus, beim Treppensteigen, bei der Fahrt mit dem Auto durch die Stadt, bei der U-Bahnfahrt, im Gedränge auf der Rolltreppe, beim Spaziergang im Park, beim Schlangestehen im Supermarkt – überall können wir uns bewusst mit dem Atem verbinden und mit ihm als Begleiter die jeweilige Situation achtsam durchleben. Besonders in schwierigen Situationen, in denen uns alles über den Kopf zu wachsen droht, kann sich diese Begleitung als segensreiche Zuflucht erweisen.
Doch auch wenn wir aus eigenem Erleben wissen, wie hilfreich Achtsamkeit ist, vergessen wir sie erfahrungsgemäß wieder und wieder, gerade in Situationen, in denen wir sie am nötigsten hätten. Zum Projekt Achtsamkeit gehört von daher auch, sich für den Alltag Hilfsmittel, Erinnerungsstützen zu schaffen. Thich Nhat Hanh nennt sie die Glocken der Achtsamkeit. Das können tatsächlich Glocken sein, zum Beispiel Kirchenglocken, aber auch rote Ampeln, Polizeisirenen, kleine Zettel mit entsprechenden Hinweisen am Spiegel im Bad, am Kühlschrank oder direkt neben dem PC im Büro, Türklinken, die man regelmäßig drückt, was auch immer. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, für sich selbst Achtsamkeitsglocken, Erinnerungsstützen zu kreieren. Mittlerweile gibt es entsprechende Achtsamkeits-Apps für iPhones und Smartphones sowie Computerprogramme, welche die Tastatur für eine Weile sperren. In der sanften Variante kann man sie selbst wieder entsperren, in der härteren muss man warten, bis das Programm sie wieder einsatzfähig macht. Wenn wir solche Hilfsmittel nutzen, kann es uns gelingen, die Achtsamkeit immer mehr in unserem Alltag zu verankern, und das ist ganz entscheidend, ob wir mit Achtsamkeit nun in einem MBSR-Kurs oder Meditationsworkshop erste Bekanntschaft schließen. Diese Bekanntschaft muss im Alltag vertieft werden, sonst ist es bald so, als hätte sie nie stattgefunden. In den buddhistischen Lehren ist Achtsamkeit ein Aspekt eines umfassenden geistigen Schulungsweges, in dem es auch um Weisheit und Erkenntnis, um Ethik und Mitgefühl geht, in dem es letztlich um die Befreiung von den Wurzeln des Leidens – Gier, Hass und Unwissenheit oder Verblendung – geht. Diese Wurzeln sind tief in jedem Einzelnen von uns und sie sind gleichzeitig ein kräftiger Motor unserer Gesellschaft.
Eine im Sinne eines umfassenden geistigen Schulungsweges verstandene und individuell wie gemeinschaftlich gelebte Achtsamkeit hat mit Sicherheit eine transformierende Wirkung auf uns wie auf die Gesellschaft, in der wir leben. Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch für eine von buddhistischen Konzepten entkernte Achtsamkeit, denn Achtsamkeit hilft einfach, einen klaren Blick auf das zu werfen, was in uns und um uns herum vorgeht, hilft dabei, uns zu entschleunigen und zumindest momentweise nicht mitzuhetzen im sich immer mehr beschleunigenden Strom unserer Zeit, hilft, das Hamsterrad deutlicher zu sehen und zu spüren, in dem wir uns im Alltag so oft gefangen fühlen. Doch ist Achtsamkeit dabei unser einziger Anker, mag der nicht stark genug sein, uns zu halten. Von daher betont auch Jon Kabat-Zinn – und in den letzten Jahren mit sehr viel Nachdruck –, wie wichtig und zentral das Mitgefühl ist, für uns selbst und für andere, und auch der Weisheitsaspekt. Wenn wir uns in Achtsamkeit üben, einzig, um entspannter zu sein, um mit Stress besser umzugehen, um besser schlafen zu können, um ..., so ist das vollkommen legitim und unser Üben wird vermutlich auch den gewünschten Effekt haben. Allerdings konkurriert dabei die Achtsamkeit mit allen möglichen anderen Methoden, die ebenfalls diese Effekte versprechen und die vielleicht etwas weniger kontinuierliche Übung von uns verlangen. Einige Methoden gibt es bereits, der ganze Wellnessbereich gehört dazu, andere werden mit Sicherheit kommen. Wir sollten nämlich vor lauter Freude, dass die Neurowissenschaft die Gehirne meditierender Mönche vermisst und breit angelegte Studien zu Achtsamkeits- und Mitgefühlstrainings durchführt, nicht übersehen, dass von den vielen Millionen Forschungsgeldern, die in dieses Gebiet fließen, ein beträchtlicher Teil aus der Pharmaindustrie und anderen Teilen der Wirtschaft stammt. Und es wäre naiv zu denken, dass es ihnen primär um mehr Achtsamkeit und Mitgefühl ginge. Eher gilt das Interesse der Entwicklung und dem Einsatz ‚passgenauer' Drogen, damit wir entspannter unsere Leistungen abrufen, wenn sie gefragt sind, wir belastbarer sind und mit Stress besser umgehen können oder keinen mehr empfinden, wir unsere Emotionen kontrollieren können und dies keiner äußeren Instanzen mehr bedarf. Das alles liegt nicht in allzu weiter Ferne. Verstehen wir Achtsamkeit rein instrumentell als bloße Technik, dann wird sie dieser Konkurrenz auf Dauer kaum gewachsen sein, denn sie hat zwar keine Nebenwirkungen, erfordert aber eine gewisse Ausdauer, Beharrlichkeit, Anstrengung und Geduld. Achtsamkeitsübung bedarf immer auch der längerfristigen Motivation.
Bild Teaser & Header © Pixabay