Das auf Achtsamkeit basierende Stressreduktionsprogramm MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) wird weltweit immer häufiger angewendet. Dessen Begründer Jon Kabat-Zinn spricht über Achtsamkeit, Buddhismus und die Gefahren des illusorischen Denkens.
Achtsamkeit ist im MBSR-Programm ebenso wie im Buddhismus von zentraler Bedeutung. Wie stehen Sie persönlich zum Buddhismus?
Viele Menschen denken, ich sei Buddhist. Das wäre auch eine natürliche Schlussfolgerung. Und auch ich selbst dachte von mir, ich sei Buddhist. Viele meiner Freunde sind westliche Buddhisten. Aber dann erkannte ich, dass es sich dabei nur um ein Konzept handelt. Es gibt eine breite Palette an sich überlappenden Methoden, die Menschen dabei helfen können, Aspekte der Achtsamkeit zu erleben. Es wäre traurig, wenn der einzige Weg, das zu erfahren, darin bestünde, Buddhist zu werden. Was ich mit MBSR versucht habe, war, meine persönlichen Erfahrungen und mein eigenes Verständnis von der Achtsamkeitspraxis für gewöhnliche Menschen verfügbar zu machen, die sonst niemals zum Buddhismus gekommen wären. Und zwar nicht Achtsamkeitspraxis als die gesamte buddhistische Lehre, sondern als etwas, das diese reflektiert. MBSR wird nicht als buddhistisch vermittelt, sondern vielmehr auf eine mit dem Buddhismus konsistente Art. Jeder, der beginnt, sich für eine bestimmte buddhistische Meditationspraxis zu begeistern, kann mit einem buddhistischen Lehrer üben, aber das ist keine Notwendigkeit. Man kann auch einfach so weitermachen und die Welt seinen Lehrer sein lassen.
Wie kann es gelingen, Achtsamkeit in den Alltag zu integrieren?
Das ist auch Teil des MBSR-Curriculums. Die Teilnehmer wissen, dass es nicht darum geht, möglichst achtsam während der Sitzpraxis zu sein und anschließend, sobald man aufgestanden ist, wieder unaufmerksam zu agieren. Die wahre Praxis findet ein Leben lang statt, nicht nur auf dem Meditationskissen. Und die Menschen benötigen zumeist weit länger als jene acht Wochen, die das Programm dauert. Manche meditieren sofort danach weiter, manche nicht. Aber alle haben Positives über die achtwöchige Praxis zu berichten. Oft machen sie danach eine Pause. Zwei, drei Jahre verstreichen. Sie geraten in Schwierigkeiten. Und dann kommt ihnen die Erinnerung, dass es ihnen in jener Zeit deutlich besser gegangen ist, als sie noch zu meditieren pflegten. Und dann beginnen sie wieder mit der Praxis. Es geht um die Langzeitperspektive. Wer einmal Achtsamkeit erlebt hat, kann diese Erfahrung nie mehr vergessen.
Welche war die beeindruckendste Erfahrung Ihres Lebens?
Das kann ich so nicht beantworten. Ich denke nicht auf diese Art und Weise. Alles ist beeindruckend in dem Sinn, dass es einen Eindruck hinterlässt. Die Frage ist, was ich daraus machen möchte, ob es eine große Sache sein soll. Ich habe viel Zeit mit dem Dalai Lama verbracht und ich betrachte mich deshalb als sehr privilegiert. Aber ich habe auch viel Zeit mit Personen aus dem Umfeld des Dalai Lama verbracht und es war gleichsam beeindruckend. Ich habe Zeit mit meiner Mutter verbracht, ebenso beeindruckend. Ich habe Zeit mit meinen Kindern verbracht, ebenso mysteriös und beeindruckend. Gleiches gilt für die Zeit mit meiner Frau. Ich versuche, nicht spezielle Geschichten aus den großartigsten Momenten meines Lebens zu machen. Ich möchte überhaupt nichts aus ihnen Das auf Achtsamkeit basierende Stressreduktionsprogramm MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) wird weltweit immer häufiger angewendet. Dessen Begründer Jon Kabat-Zinn spricht über Achtsamkeit, Buddhismus und die Gefahren des illusorischen Denkens.
Worin bestand Ihre größte Illusion?
Dass ich etwas verstanden habe.
Mit welcher inneren Haltung begegnen Sie den Patienten in der Stress Reduction Clinic?
Jeder Moment ist außergewöhnlich, jeder Atemzug ist außergewöhnlich. Jene, die in die Klinik kommen, werden von mir nicht als Patienten gesehen, sondern als wunderbare Menschen. Ich möchte ihnen im gegenwärtigen Moment begegnen und ihre Geschichten hören, weil sie für sie wichtig sind. Noch mehr interessiert mich aber, was passieren würde, wenn jemand seine Geschichte hinter sich lässt, um seine Energie fortan in neuer Weise zu verwenden. Und wir verfügen über Methoden dafür. Es geht darum, dass die Menschen erkennen, um wie viel sie tatsächlich größer sind, als sie bisher von sich gedacht haben.
Und das funktioniert tatsächlich?
Ja, manchmal sagen sie zu mir: „Sie haben mir mein Leben zurückgegeben.“ Und ich antworte darauf: „Nein, das stimmt nicht. Sie selbst haben es sich zurückgegeben. Ich war nur so etwas wie ein Coach. Ich habe nur einen hilfreichen Raum zur Verfügung gestellt. Und ich habe Ihre Buddha-Natur gesehen.“
Lässt sich durch Achtsamkeit das menschliche Leiden überwinden?
Achtsamkeit ist nicht irgendeine Art von Ideal. Es ist nicht so, dass jemand, der Achtsamkeit praktiziert, nie mehr verärgert ist oder keine Angst mehr spüren wird. Es geht vielmehr darum, dass wir lernen, großzügiger mit uns selbst umzugehen, das heißt, uns zu erlauben, die volle Bandbreite an menschlicher Emotionalität zu spüren.
Es gibt Personen, die sich aufgrund ihrer buddhistischen Praxis im Glauben wähnen, all ihre negativen Gefühle überwunden zu haben. Was sagen Sie zu diesem Phänomen?
Wissen Sie, wie ich das nenne? Bullshit! Ja, es ist möglich, durch lebenslange Praxis sich selbst zu transformieren, so dass man nicht mehr so einfach in negative Emotionen abgleitet. Aber wenn jemand denkt, jetzt, wo ich ein Buddhist bin, werde ich nie mehr Sorgen und Probleme mit meinen Kindern haben, liegt er vollkommen falsch. Es existiert eine bestimmte Art, wie Menschen dazu tendieren, die Meditationspraxis zu idealisieren. Und dann geben sie vor, wahre Meditierende zu sein. Ich möchte das nicht total kritisieren. Ich sage nur, dass es sich dabei um ein Produkt des menschlichen Geistes handelt. Es ist nicht unbedingt falsch, dieses Selbstbild, diese Geschichte von sich als Buddhist oder Meditationspraktiker zu haben. Aber man sollte machen, sondern sie selbst zu mir sprechen lassen. Ich möchte auch nicht so sehr aus meinem Gedächtnis heraus leben, sondern im gegenwärtigen Moment.
Welche Konsequenzen können damit verbunden sein?
Man verliert seine Weisheit. Man verliert das Selbstmitgefühl, da man sich etwa nicht mehr erlaubt, verärgert zu sein. Nach dem Motto: Es ist nicht mehr möglich für mich, böse zu werden, jetzt, wo ich meditiere. Man kann sich also nicht mehr selbst ganz als ein menschliches Wesen akzeptieren.
Manche wirken ausgeglichen und entspannt, in Wahrheit unterdrücken sie aber nur ihre negativen Gefühle. Und dann stellen sie eines Tages voller Schrecken fest, dass sie sich und ihrer Umwelt nur etwas vorgespielt haben.
Das wäre dann ein Moment der Realisierung, gut so! Es kommt zur Konfrontation mit den eigenen unterdrückten Gefühlen. Wer in einer illusorischen Welt gelebt hat und dann eines Tages aufwacht, erschrickt und sich daraufhin entscheidet, wieder zurückzukehren in seine bisherige Welt, der wird am Ende nur noch mehr leiden. Das ist sehr traurig! Wenn wir uns nicht ehrlich darum bemühen aufzuwachen, werden wir während unseres gesamten Lebens schlafen. Und die Konsequenzen dessen sind einfach nur desaströs. Für einen selbst ebenso wie für all jene, mit denen man sich in Kontakt befindet.
Worin besteht die Motivation, sich zum MBSR-Lehrer ausbilden zu lassen?
Die Motivation, MBSR zu unterrichten, besteht darin, dass es ein radikaler Akt ist, jemanden aufzufordern, innezuhalten und einen Blick unter die Oberfläche seines Lebens zu riskieren. Es bedeutet letztlich, aufzuwachen, in eine tiefere Dimension des Daseins einzutauchen. Ich bin sehr beeindruckt von all jenen Menschen, die ich kenne und die das gemacht haben. Jeder ist einzigartig in seinem Stil, wie er diese Arbeit den Menschen näherbringt. Sie alle lieben auch die buddhistische Lehre auf ihre individuelle Art.