Der Zen-Weg lehrte mich vieles. Eines war: Er öffnete mir die Augen für den Geist der Zweiheit. Mönche und Nonnen, die in die Hauslosigkeit gehen, in ein Kloster oder eine Eremitenklause, nehmen gewöhnlich nichts mit.
Eine Bettelschale, ein Kleidungsstück und nicht viel mehr. Armut ist die Voraussetzung für den Weg, der sich ausschließlich der spirituellen Erkenntnis widmet. Wozu Mönch werden, dachte ich oft, man könne doch auch ‚in der Welt‘ bestehen und gleichzeitig sehr ernsthaft den Zen-Weg beschreiten. Macht es wirklich einen Unterschied, nichts zu besitzen? Führt das Leben ‚draußen‘ notgedrungen zu ‚Anhaften‘ und ‚Mehr-haben-Wollen‘? Oder gibt es noch einen anderen Aspekt?
Machen wir einen Schwenk in die unmittelbare Gegenwart. „Nie mehr“, dachte ich mir, „genug ist genug.“ Ich war einen ganzen Tag lang vor dem Computer gesessen, um 300 Bilder von einem Seminarwochenende von der Kamera auf die Festplatte zu übertragen, auszuwählen, zu benennen und dann den Seminarteilnehmern zu schicken. Eine Arbeit, die mich die Wände hinaufklettern ließ. Stupide Routinearbeit, die mich abhielt, in den Frühling hinauszugehen, Bärlauch zu pflücken und den Vögeln zuzuhören. Die Kamera, mit der die Aufnahmen gemacht worden sind, ist eine, die besonders für Sportaufnahmen geeignet ist und gewöhnlich auf einen Helm aufmontiert wird. Sie ist winzig klein, nimmt sehr scharfe Bilder in Zehntelsekundenabständen auf, sodass man in Fotoserien von 30 Aufnahmen in der Sekunde jede kleinste Veränderung dokumentieren kann. Dadurch bekommt man garantiert sehr schöne Fotos, denn die Auswahl ist riesengroß. Diese Kamera erfreut jedes Technikerherz. Nur die Arbeit, die hinten nachkommt, ist meistens so nicht eingeplant und kostete mich immens viel Energie.
Große Auswahl ist gut – ist große Auswahl gut?
Die Sonderausstattungen von Autos, die vielen Features technischer Geräte, die überquellenden Regale der Supermärkte, sie alle zeigen uns, was in der heutigen Zeit gefragt ist: eine Riesenauswahl. Bei Lebensmitteln wird zunehmend mehr Menschen bewusst, dass die Riesenauswahl auch Schattenseiten hat: Sie werden billig produziert, oft auf Kosten von Menschen und Tieren, es wird viel verschwendet und weggeworfen. Gleichzeitig verlangen sie nach der großen Auswahl – ein sehr ambivalentes Verhalten. Kürzlich sprach ich mit dem Küchenchef eines großen Hotels. Die Eigentümer und die Mitarbeiter engagieren sich für nachhaltiges Wirtschaften, für regionale Produkte und wollen das sinnlose Wegwerfen der Lebensmittel möglichst einschränken. Diese Einstellung wollten sie ihren Gästen mitgeben. Sie boten hochqualitative Produkte an: das Brot vom Biobäcker der Region, die Milch vom Bauern, alles bio. Es schmeckte sehr gut. Dafür schränkten sie die Auswahl ein. Statt ein überbordendes Buffet von acht bis zehn Hauptspeisen zu bieten, servierten sie in Buffetform ein fünfgängiges Menü: „Was glauben Sie, was meine Mitarbeiter zu hören bekamen!“ Die Gäste fühlten sich schlecht behandelt – trotz der schmackhaften Speisen. „Ich arbeite die ganze Woche rund um die Uhr, da möchte ich wenigstens am Wochenende verwöhnt werden“, bekamen sie zu hören. Das Hotel verzeichnete einen Umsatzrückgang und zog die Notbremse. Das ist eines der Dilemmas der heutigen Zeit. Die riesige Auswahl von Produkten und die Myriade an Möglichkeiten, zwischen denen sie jeden Tag auswählen müssen, ist für viele Menschen gleichzeitig Verheißung, aber auch Fluch.
Ihr müsst dauernd Entscheidungen treffen
Als ich vor vielen Jahren in Japan lebte, fiel mir auf, dass sich die Gastfreundschaft ziemlich von der hier üblichen unterschied. Sobald sich ein Gast hinsetzte, wurde ihm Tee oder Kaffee serviert. So wie der Kaffee serviert wurde, wurde er akzeptiert. Niemand fragte: „Wollen Sie den Kaffee mit Milch und Zucker?“ „Wollen Sie dies oder jenes?“ Es wurde freundlich serviert und der Gast akzeptierte. Einem befreundeten Japaner fiel auf, dass ich ihn immer fragte: „Willst du dies oder jenes?“ „Schmeckt dir das oder das?“ Er fand das komisch. „Wie anstrengend ihr lebt! Dauernd müsst ihr etwas entscheiden“, sagte er. Was für mich ein Ausdruck meiner Individualität war, fand mein Freund anstrengend. Mit welchen Nichtigkeiten gibst du dich ab? war in seinem Hinterkopf zu lesen. Das erinnert mich an den ältesten Zen-Text, das Shinjinmei (Meißelschrift über das Vertrauen in den einen Geist, 6. Jahrhundert, in der Folge Zitat daraus). Der ganze Text ist eine Lehrrede vom Geist der Zweiheit, der unser aller Leben bestimmt.
Es ist nicht schwer, den Weg zu durchdringen, Wenn du nur frei bist.
Von wählerischer Wahl.
Die ‚wählerische Wahl‘ und die Unterscheidung zwischen Angenehmem und Unangenehmem stehen dem ‚Weg‘ im Wege.
Ziehe ich heute eine blaue oder eine lila Jacke an? Der Mönch hat nur eine Wahl, seine Kutte. Gehe ich zum Chinesen oder zum Italiener essen? Die Nonne muss sich darüber keine Gedanken machen, sie isst im Kloster-Speisesaal. Soll ich den Urlaub lieber in Mallorca oder auf Sardinien verbringen? Andauernd sind Sie im Entscheidungsmodus, andauernd ist Ihr Kopf mit dem Denken beschäftigt: „Brauche ich das, brauche ich das nicht?“ Die große Auswahl verführt zum Glauben, dass Sie frei und reich sind – frei, zwischen mehreren Möglichkeiten zu wählen, und dadurch reich an Auswahl. Doch bei einer zu großen Auswahl kippt das Ganze. Dann sind Sie nur mehr damit beschäftigt, zwischen Wahlmöglichkeiten hin und her zu denken, und verlieren den Blick auf das Wesentliche.
Die zwei Seiten aller Dinge entstehen,
Wenn du zu viel bedenkst.
Auch Prioritätenlisten helfen da nicht viel, denn die große Auswahl wurde schon wahrgenommen und damit sind Sie schon der Belastung, zu urteilen, ausgesetzt. Denn letztlich bedeutet auswählen auch, zu unterscheiden und abzuwägen, was besser ist.
Doch entsteht im Geist eine Unterscheidung,
Auch nur so winzig wie ein Staubteilchen:
Sogleich trennt unendliche Entfernung Himmel und Erde.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 96: „Buddha’s Way of Life"
Setzen Sie sich Grenzen!
Früher dachte ich, ein Restaurant mit großem Buffet bietet mir mehr als ein Restaurant, in dem ich mir eine Speise aussuche. Ich beobachte bei den Buffets, wie die Menschen von jeder Speise zwei Bissen auf den Teller geben und sich dann durch neun verschiedene Geschmäcker kosten. Heute versuche ich, mich bei Buffets auf eine Hauptspeise zu beschränken. Grundsätzlich vermeide ich zunehmend Situationen, in denen ich aus vielen Dingen wählen muss. Manche Menschen fahren den Entscheidungsmodus in ihrem Leben bewusst herunter. Eine befreundete Unternehmerin ist darin meine Lehrmeisterin. Sie trifft eine Entscheidung und dann bleibt sie dabei. Ein Beispiel: Sie hat ein Kleidergeschäft ausgewählt, das ihrem Stil entgegenkommt. Dorthin geht sie immer einkaufen und die Besitzerin trifft für sie schon die Vorauswahl. Sie hat für jeden Lebensbereich eine Fachfrau, die sie berät: ob Friseurin, Kosmetikerin, Fitnesstrainerin. Auch bei ihren Freunden ist sie wählerisch. Sie hat eine Handvoll Freunde, die sie trifft, diese wenigen Freundschaften pflegt sie aber über viele Jahre hinweg. Sie hat gelernt, Nein zu sagen, um sich nicht zu verzetteln. Sie lebt in gewisser Hinsicht auf Auswahldiät und hat dadurch einiges mit einem Mönch oder einer Nonne gemeinsam. Grenzen setzen kann Sie frei machen. Gestalten Sie Ihr Leben bewusst so, dass Sie nicht andauernd wählen müssen. Entscheiden Sie sich für ein Geschäft, in dem Sie einkaufen werden, und nicht dafür, die ganze Einkaufsstraße rauf und runter zu rennen. Und: Planen Sie im Vorhinein, welche Arbeit mit dem ausgewählten Produkt verbunden ist. Hat die beste Kamera der Welt einen Sinn, wenn sie Ihnen fünf Stunden Ihres Lebens für die Auswahl der Bilder nimmt? Lernen Sie von den Mönchen und Nonnen. Sie verbannen die wählerische Wahl aus ihrem Leben. Denn:
Die Wahrheit ist ohne Zweiheit,
Die Nicht-Zweiheit ist die Wahrheit.