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Achtsamkeit & Meditation

Warum meditieren Buddhisten, und was wollen sie damit erreichen? Wenn wir uns ärgern oder aufgeregt sind, also unter Stress geraten, geht es uns nicht gut. 

Wir leiden. Das Leiden zu überwinden, ist das zentrale Anliegen buddhistischer Praxis. Deshalb halte ich Kurse zum Thema Meditation und Stressbewältigung. Mein Freund Horst meint dazu, sie erfüllten nicht den Zweck der Lehre Buddhas. Da gehöre mehr dazu. Etwa die Motivation, alle Menschen retten zu wollen, und nicht, dass es einem selbst besser geht. Das hält er für Egoismus. Ich denke an Buddha, stelle mir vor, wie er vor 2.500 Jahren in völliger Abgeschiedenheit in einem Dschungel unter dem Bodhi-Baum saß, in tiefer Meditation versunken. Hat er nicht auch versucht, sein Leiden zu überwinden?

Aus dem, was er erkannt hat, ist ein mächtiges Lehrgebäude mit Tausenden von Schriften und Schulen und Millionen Nachfolgern entstanden. Alle berufen sich auf ihn. Alle nennen das, was sie praktizieren, Buddhismus. Was würde der Mann unter dem Baum wohl heute zu Horst und mir sagen?

Die Frage kann nicht klar und eindeutig beantwortet werden. Über das, was Buddha tatsächlich herausgefunden und gelehrt hat, seine Lehren und sein Ziel, wird seit damals diskutiert, sogar gestritten. Er selbst hat nichts aufgeschrieben. Das geschah erst 400 Jahre nach seinem Tod. Es gibt daher nicht das eine Buch, ähnlich der Bibel oder dem Koran, auf das sich alle Buddhisten und Buddhistinnen berufen können. Buddhismus gilt als Religion, aber glauben braucht man ihm nicht. Er ist ein Erkenntnisweg, auf dem man alles prüfen soll.

Horst folgt einer späten Ausprägung des Buddhismus, den man Mahayana nennt. Ich selbst habe mich im sogenannten Theravada-, im Tibetischen und Zen-Buddhismus geübt, glaube nichts und folge heute keiner bestimmten Richtung. Durch das Lesen früher Texte und meiner eigenen Erfahrung versuche ich, Buddhas Weg wieder zu gehen. Dazu hatte er alle Menschen aufgerufen.

Horst behauptet, Schüler und Schülerinnen, die Wege gehen wie ich, würden Erleuchtung nur für sich selbst anstreben. Im Buddhismus ginge es aber um mehr. Vor allem um die Motivation, allen Wesen bei der sogenannten Befreiung helfen zu wollen. Darunter versteht er unter anderem, sogenannte Verdienste anzusammeln. Die geschieht etwa durch die Rezitation von Mantras. Diese Verdienste könne man ins nächste Leben mitnehmen, um so nach vielen Leben selbst ein Buddha zu werden und allen Menschen dienen zu können.

Buddhismus ist ein Erkenntnisweg, auf dem man alles prüfen soll.

Der Wiederholung heiliger Worte wird vor allem im Tibetischen Buddhismus große Bedeutung beigemessen. Der Vorstand des Bodhicharya Zentrums in Deutschland rief im Internet dazu auf, für ihren Schirmherrn, Seine Heiligkeit (SH) den 17. Karmapa Ogyen Trinley Dorje, 216.000 Rezitationen des Mantras der Weißen Tara zu sammeln, ihm zu widmen und ihm diese per E-Mail zu schicken. Dadurch würde man zur Befriedung von Hindernissen beitragen sowie Gesundheit und ein langes Leben für SH den Karmapa erreichen und ihm für seine grenzenlosen Dharma-Aktivitäten danken. An diesem Aufruf haben sich spontan so viele Menschen beteiligt, dass die Zahl der Rezitationen, die erreicht werden sollen, auf 540.000 erhöht wurde. Sollte die große Unterstützung anhalten, will man sich sogar auf eine Million Mantras steigern. Anlass für diesen Aufruf ist ein Bericht, dass die ehemalige Nonne Vikki Hui Xin Han SH den Karmapa in Kanada auf Kindesunterhalt verklagt habe. Er soll die ehemalige Nonne sexuell missbraucht und geschwängert haben.

Warum meditieren

An dem problematischen Thema bleibt viel offen: Ob die Nonne den Karmapa zu Recht verklagt hat? Wie wird dieser mit der ihm unterstellten Vaterschaft umgehen? Warum widmen so viele Menschen, Männer, vor allem aber auch Frauen, die Mantras nur dem heiligen Mann, nicht aber auch der Nonne? Ich gebe zu, dass ich diese Art der Praxis, mit Hindernissen umzugehen, schwer nachvollziehen kann. Andere können in meiner Praxis, durch Meditation ruhiger und gelassener zu werden, auch nicht den wahren Zweck der Lehre Buddhas erkennen. Was Buddhismus ist und was nicht, ist also komplex.

Als ich mich in der Mitte meines Lebens einem spirituellen Weg zuwandte, hatte ich nicht überlegt, wozu ich das mache. Der sogenannte Mittlere Weg hat mich einfach angesprochen. Ich habe meditiert. Viele Jahre täglich eine Dreiviertelstunde und in dieser Zeit mehrere Kurse von ein bis zwei Wochen pro Jahr besucht. Das war nicht einfach, oft sehr krisenhaft. Alle zehn Jahre habe ich geglaubt, endlich zu wissen, worum es in der Lehre Buddhas wirklich geht, nur um nach weiteren zehn Jahren herauszufinden, immer noch nicht am Ziel zu sein. Es war ein langes Suchen und Straucheln, oft ein Erkennen: „Das ist es wieder nicht.“ Heute, nach fast vierzig Jahren, erkenne ich, mein Problem ist es nicht gewesen, diese oder jene Stufe erreicht oder nicht erreicht zu haben, sondern nicht genügend bewusst im Augenblick, nicht genügend achtsam gewesen zu sein. Das bin ich allmählich geworden, durch die Praxis, durch Krisen, durch das Leben selbst mit seinen Problemen.

Heute verstehe ich die Lehre so: Es geht nicht ums nächste Leben, nicht darum, irgendwelche heilige Stufen zu erlangen, sondern um diesen Augenblick. Er vergeht und entsteht ununterbrochen. In ihm entscheidet es sich, ob wir gelassen sind oder leiden – immer wieder. Ich sehe etwas, höre etwas, begegne jemandem. Jedes Mal entsteht aufgrund dessen, was ich wahrnehme, ganz automatisch ein Gefühl in mir. Ganz gleich, ob ich dieses bewusst wahrnehme oder nicht, es geht mir gut, wenn es ein angenehmes Gefühl ist, und es bereitet mir Probleme, wenn es ein unangenehmes Gefühl ist. Aufgrund dieser Gefühle, also bedingt durch sie, reagiere ich. Was mir ein angenehmes Gefühl verursacht hat, will ich haben, aufgrund unangenehmer Gefühle beginne ich mich zu ärgern, habe Ängste, versuche mich abzulenken. Ist die Empfindung weder noch, also neutral, ist alles in Ordnung, ich bleibe, ohne mich zu bemühen, ganz ruhig. Leider sind mir sowohl meine Wahrnehmungen als auch meine Gefühle und die durch sie bedingten Handlungen nicht immer bewusst, und ich gerate von einem Hindernis ins andere. Buddha bezeichnet diese Form des Lebens als den Daseinskreislauf im Samsara. In diesen Kreislauf kann man normalerweise nicht eingreifen, weil man nicht genügend bewusst und achtsam ist, um ihn zu erkennen. Das habe ich im Laufe meiner Übung durchschaut. Oft habe ich mich geärgert, obwohl ich das gar nicht wollte, ständig haben sich Gedanken, Gefühle und Handlungen ergeben, die ich weder richtig kontrollieren noch aktiv steuern konnte, ich habe auf meine Umwelt mehr oder weniger nur reagiert. Ich war nicht frei.

Warum meditieren Buddhisten?

Erst im Laufe der langen Jahre meiner Praxis der Meditation und Achtsamkeit bin ich bewusster geworden. Es hat sich eine neue Welt aufgetan. Ich kann mich dort, wo ich mich früher geärgert habe und aufgeregt war, heute auch nicht ärgern und ruhig bleiben. Diesen Prozess des Bewussterwerdens, Ruhigerwerdens, Sich-weniger-Aufregens hat Buddha beschrieben. „Leiden“ hat er es genannt, wenn man nicht liebevoll und gelassen ist und „Nichtleiden“, wenn man es ist. Das ist alles. Eigentlich keine Hexerei. Das Problem liegt in unserer Unbewusstheit und Triebhaftigkeit. Wir gehören der Gattung des sogenannten Homo sapiens an. Wir sind zwar bewusster als unsere Vorfahren vor 100.000 Jahren, aber immer noch sind uns neunzig Prozent von dem, was wir denken, fühlen und handeln, nicht bewusst. Buddha wird als erwacht und triebversiegt bezeichnet. Er war also zu hundert Prozent bewusst und hat die reflexhaft anspringenden Triebe, unter denen wir leiden, gänzlich überwunden.

Warum seine Lehre schwer zu erkennen und nachzuvollziehen ist, dazu gibt es eine alte Legende. Nachdem sich Buddha erleuchtet und tiefe Erkenntnisse über die menschliche Natur und die Welt erlangt hatte, wollte er diese anfänglich gar nicht verkünden. Er glaubte, die Menschen würden sie nicht verstehen. Erst ein paar zufällig in der Gegend herumfliegende Engel haben ihn davon überzeugt, dass es doch gut sei, mit dem Lehren zu beginnen. Buddhas Erwachtsein, also Bewusstsein und seine sogenannte Triebversiegtheit können wir so schwer nachvollziehen, weil wir selbst weitgehend unbewusst und triebhaft sind. Das ist ähnlich wie mit blinden Menschen, denen man die Farbenpracht der Welt auch nicht erklären kann.

Und noch etwas hat sich mir erst im Laufe der Praxis erschlossen: Meditation und Achtsamkeit alleine sind zu wenig, um das Leben im Leiden, im Samsara, zu beenden und in jenes ohne Leiden, ins Nirvana, zu gelangen. Mit zunehmender Bewusstheit kann man zwei weitere, von Buddha gelehrte Methoden anwenden: Untersuchung und Anstrengung. Mit der einen erkennen wir, wie wir wirklich sind, und mit der anderen lernen wir, Hindernisse fallen zu lassen und Liebe zu entwickeln.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 117: „Meditation"

UW117 Cover


Horst sieht das alles anders. Stressbewältigung sei reine Psychologie. Wenn er Stress bewältigen wolle, ginge er zur Psychotherapie. Das sei reiner Wohlfühlbuddhismus. Bei ihm ginge es um mehr. Er habe gelobt, allen Wesen zur Befreiung zu verhelfen. Ich hingegen würde nur das eigene Wohl anstreben. Sein Weg ginge weit darüber hinaus. Seine Verdienste aus diesem Leben nähme er nach seiner Wiedergeburt mit ins nächste. Das würde zwar noch viele Lebenszyklen bedürfen, aber irgendwann würde er das letzte und eigentliche Ziel erreichen und selbst ein Buddha werden. Dann könne er allen Wesen helfen. Vorbild seien ihm dafür alle in der Vergangenheit und jetzt lebenden Heiligen.

Es gibt unterschiedliche Sichtweisen auf den Buddhismus. Ich widerspreche ihm nicht. Vielleicht hat er recht. Ich weiß es nicht. Im religiösen Weltbuddhismus gibt es viele ähnliche Beschreibungen des buddhistischen Weges, wie er ihn sieht. Aus frühbuddhistischen Texten lese ich das heraus, wie ich ihn sehe.

Warum meditieren wir also? Man kann also aus unterschiedlichen Gründen meditieren und unterschiedliche Ziele anstreben. Es hat wenig Sinn, darüber zu streiten, wer recht hat und wer nicht. Darüber diskutieren können wir natürlich schon.

Möge die Übung gelingen.

 Die Sieben Erleuchtungslieder

Im Buddhismus gibt es die sogenannten Sieben Erleuchtungsglieder. Sie bewirken die Befreiung, „Nirvana“.

Vier Methoden:

  1. Meditation: Übung von Konzentration und Bewusstheit
  2. Achtsamkeit: Innenschau, Bewusstheit, Selbstreflexion
  3. Untersuchung: Sehen, was ist
  4. Anstrengung: Übung zur Gelassenheit, Schwierigkeiten überwinden und Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut entwickeln

 Drei Fähigkeiten:

  1. Verzückung: Eintrittspforte in die tiefen Stadien der Meditation
  2. Gelassenheit: um die man sich durch Bewusstheit und Anstrengung bemüht
  3. Gleichmut: als Ziel des buddhistischen Geistestrainings

Das zwölfgliedrige „Bedingte Entstehen“

  1. Unwissenheit und Unbewusstheit bedingen …
  2. Glaubensätze, sogenannte Karmaformationen, etwa persönliche, religiöse oder politische Meinungen und Ansichten. Diese bedingen das …
  3. gegenwärtige Bewusstsein. Es manifestiert sich im …
  4. Körper und Geist, besser materiell und geistig.
  5. Durch die sechs Sinnesorgane entstehen die …
  6. Bewusstseinseindrücke, die die …
  7. Gefühle hervorrufen. Angenehme und unangenehme Gefühle führen zum …
  8. Begehren, das sich als Haben-Wollen und Ablehnung manifestiert. Beide führen zum …
  9. Anhaften und zu …
  10. Wiederholungen gleicher Gefühls- Denk- und Handlungsabläufe*), die immer wieder
  11. entstehen und …
  12. vergehen.

*) Diese werden als Samsara bezeichnet und können durch Bewusstwerdung und Triebversiegung in der buddhistischen Praxis beendet werden.

 

Essentials

Karma: Das gegenwärtige Sein, alles, was mich ausmacht, meine Taten und die Summe meiner Taten.
Wiedergeburt: Wiederwerden bzw. Wiederentstehen des (gleichen) Bewusstseins und der (gleichen) Handlungsabläufe.
Leerheit, Substanzlosigkeit: Fehlen eines festen Kerns, einer „Seele“, unveränderlicher Eigenschaften im Ich und in allen anderen Dingen. Der Mensch interpretiert diese lediglich in die Wirklichkeit hinein und erschafft auf diese Weise die Illusion (s)einer eigenen Welt.
Leidhaftigkeit: Die Welt ist leidbringend, solange die Wirklichkeit nicht erkannt und akzeptiert wird.
Vergänglichkeit: Alle Dinge in der Welt sind vergänglich.
Samsara: Leben im Stress.
Nirvana: Leben in Gleichmut, Mitgefühl, Freude und Liebe.
Freiheit: Sich seiner Gefühle und Gedanken immer bewusst sein und in diese eingreifen können.
Erleuchtung: Einsichtsmomente in der Meditation und im Leben.
Erleuchtetes Leben: Voll bewusst sein und keine unbewussten Antriebe haben. Mitfühlend, freudig, liebevoll und gleichmütig leben.

 

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Univ.-Prof. Dr. Peter Riedl

Univ.-Prof. Dr. Peter Riedl

Peter Riedl ist Universitätsprofessor für Radiologie und seit über 30 Jahren Meditations- und Achtsamkeitslehrer. Er ist Gründer und war bis Juni 2019 Herausgeber der Ursache\Wirkung, hat W.I.S.D.O.M., die Wiener Schule der offenen Meditation und das spirituelle Wohnheim Mandalahof gegründet. S...
Kommentare  
# Wu 2022-10-27 21:56
Ist das nicht ein wenig einseitiges Bild des Buddhismus? Ich kann mich an eine Studie erinnern, wo man herausfand, das in Asien selbst unter buddh. Mönchen viele nicht meditieren. Und es gibt große Richtungen (z.B. die größten Schulen in Japan, die Amida-buddh. Schulen), wo Meditation und Eigenbemühung gar keine Rolle spielen.
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