Um den Begriff „Achtsamkeit“ ist in den letzten Jahrzehnten ein Hype entstanden. Überall wird sie unterschiedlich gelehrt und ausgelegt. Was ist sie wirklich?
Auszug des fünften Bandes „Das Geheimnis der Achtsamkeit“ aus der Serie „Möge die Übung gelingen“ von Peter Riedl.
Achtsamkeit wird in Firmen, Gefängnissen, therapeutischen Einrichtungen geübt. Sie wird über den grünen Klee gepriesen und in Grund und Boden kritisiert. Die Suchmaschine Google liefert zum Begriff „Achtsamkeit“ viele Millionen Resultate in Bruchteilen einer Sekunde. Weltweit werden mit ihr Milliarden Dollar umgesetzt.
Achtsamkeit wird auf ZEIT ONLINE als die neue Ego-Religion beschrieben. Im Internet kann man durch sie im Lotto gewinnen, glücklicher werden und mit Engeln in Kontakt treten.
Achtsamkeit wird zunehmend polemisch diskutiert. In einem Roman von Karsten Dusse kann man mit ihr achtsam morden. Bei Max Tholl solle sie der Selbstoptimierung dienen, nützt aber vor allem ökonomischen Interessen, Totalitarismus sei eine ihrer gefährlichsten Folgen.
Diese Liste ließe sich fortsetzen, es gibt eine Unzahl von Büchern, wie, wozu und wo sie angewendet werden soll, und ebenso viele Definitionen, was sie ist.
Wenn es so unendlich viele und extrem unterschiedliche Ansichten von ihr gibt, frage ich, was also ist sie wirklich? Steckt ein Geheimnis in ihr, das wir gar nicht kennen?
Buddha Shakyamuni war der Erste, der sie vor 2.500 Jahren im Satipatthana-Sutta, der Lehre von den Grundlagen der Achtsamkeit, beschrieben hat. Doch diese alte Lehrrede gibt ihr Geheimnis gar nicht so einfach preis. Mit vielen Wortwiederholungen ist sie in einer nicht leicht verständlichen, antiquierten Sprache mit vielen ungewöhnlichen Begriffen verfasst worden. Ich praktiziere seit vierzig Jahren theoretisch und praktisch eine spirituell-buddhistische Übung. Mit dieser Praxis habe ich mich dem alten Text genähert und versuche ihn, so gut wie möglich im folgenden Abschnitt in eine zeitgemäße Sprache zu übertragen. Anschließend möchte ich sie einer kritischen Betrachtung unterziehen. Begeben Sie sich mit mir auf eine Reise 2.500 Jahre vor unserer Zeit, um das Geheimnis gemeinsam zu lüften.
Methode
Die Transferierung des Originaltextes in eine zeitgemäße Sprache ist ein schwieriges Unterfangen, da es sich um eine mehrstufige Übersetzung und Interpretation handelt, vom Pali, die Sprache, in der Buddha gesprochen hat, ins Deutsche und erst danach in eine Anpassung und Interpretation an die Ausdrucksweise unserer Zeit. Einzelne Begriffe habe ich meiner Erfahrung mit den Methoden der Meditation und Achtsamkeit entnommen und sie mit alten Texten in Bezug gebracht.
Der Text der Rede ist an Buddhas Mönchsgemeinde gerichtet. Sie betrifft aber alle Menschen zu allen Zeiten. Ich habe sie daher so modifiziert, als spräche Buddha Shakyamuni heute zu uns. Da Buddhas Reden über mehrere Jahrhunderte nicht aufgeschrieben, sondern lediglich auswendig gelernt worden waren, bestehen seine Texte aus vielen Wiederholungen, die ich weglasse.
Vorgangsweise
Um die Vorgehensweise zu verdeutlichen, wie ich versuche, den alten Text in eine zeitgemäße Sprache zu übertragen, schließe ich an dieser Stelle die Einleitung des Originaltextes an. Wie das 2.500 Jahre später etwas weniger poetisch klingt, lässt sich im Anschluss daran nachlesen:
Originaltext des Maha-Satipatthana-Sutta – Einleitung
Verehrung Ihm, dem Erhabenen, Heiligen, Vollkommen Erwachten!
So habe ich gehört. Einst weilte der Erhabene unter dem Kuru-Volk, bei einer Ortschaft der Kuru mit Namen Kammâsadamma. Dort nun wandte sich der Erhabene an die Mönche: „Ihr Mönche!“ „Ehrwürdiger!“, antworteten da jene Mönche dem Erhabenen. Und der Erhabene sprach also:
„Der einzige Weg ist dies, oh Mönche, zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Klage, zum Schwinden von Schmerz und Trübsal, zur Gewinnung der rechten Methode, zur Verwirklichung des Nibbana1), nämlich die vier Grundlagen der Achtsamkeit.
Welche vier?
Da weilt, o Mönche, der Mönch beim Körper in Betrachtung des Körpers, eifrig, wissensklar und achtsam, nach Verwindung von Begierde und Trübsal hinsichtlich der Welt; er weilt bei den Gefühlen in Betrachtung der Gefühle, eifrig wissensklar und achtsam, nach Verwindung von Begierde und Trübsal hinsichtlich der Welt; er weilt beim Geist in Betrachtung des Geistes, eifrig, wissensklar und achtsam, nach Verwindung von Begierde und Trübsal hinsichtlich der Welt; er weilt bei den Geistobjekten in Betrachtung der Geistobjekte, eifrig, wissensklar und achtsam, nach Verwindung von Begierde und Trübsal hinsichtlich der Welt.
Maha-Satipatthana-Sutta – zeitgemäße Interpretation
Der einzige Weg, der des Menschen Herz und Geist, also seine Gefühle und sein Denken klärt, der hilft, Kummer, Sorgen und die Widrigkeiten des Lebens zu überwinden, der die Methode enthält, die in die Freiheit1) führt, das ist die Übung der vier Grundlagen der Achtsamkeit.
Welche vier?
Der Mensch ist sich bewusst
- des Köpers,
- der Gefühle,
- des Bewusstseins,
- der Gedanken,
sich ständig bemühend, klaren Geistes und achtsam, nach Überwindung des Begehrens und der Ablehnung aller Dinge dieser Welt.
Die Achtsamkeit auf den Körper
Wie nun die Achtsamkeit auf den Körper üben?
Achtsamkeit auf den Atem
Sich im Schneider- oder Kniesitz auf ein Kissen oder aufrecht auf einen Sessel setzen, sich der Achtsamkeit bewusst sein und achtsam ein- und ausatmen.
Lang einatmend bei sich wissen, ich atme lang ein, lang ausatmend bei sich wissen, ich atme lang aus, kurz einatmend bei sich wissen, ich atme kurz ein, kurz ausatmend bei sich wissen, ich atme kurz aus.
Sich darin üben, die Atmung im ganzen Körper zu empfinden, sich darin üben, die Atmung zu beruhigen.
Die Anweisung zur Übung
Die Aufmerksamkeit nach innen auf die eigenen körperlichen Vorgänge richten.
Die Aufmerksamkeit nach außen auf die körperlichen Vorgänge anderer richten.
Die Aufmerksamkeit abwechselnd nach innen und außen auf die eigenen und fremden körperlichen Vorgänge richten.
Erkennen, wie die Bewegungen und Reaktionen im eigenen Körper entstehen und vergehen.
Den Körper spüren, so ist Achtsamkeit gegenwärtig, soweit es der Erkenntnis dient, soweit es der Achtsamkeit dient. Unabhängig leben, an nichts anhaften.
So die Achtsamkeit auf den Körper üben.
Die vier Körperhaltungen
Beim Gehen wissen, ich gehe.
Beim Stehen wissen, ich stehe.
Im Sitzen wissen, ich sitze.
Im Liegen wissen, ich liege.
Wie immer die eigene Körperhaltung ist, das weiß man.
Sich aller inneren und äußeren körperlichen Vorgänge bewusst sein und diese im Entstehen und Vergehen erkennen. Den Körper spüren, so ist Achtsamkeit gegenwärtig, soweit es der Erkenntnis dient, soweit es der Achtsamkeit dient. Unabhängig leben, an nichts anhaften. So die Achtsamkeit auf den Körper üben.
Wissensklarheit
Beim Gehen klar wissen, was man tut.
Beim Sehen klar wissen, was man tut.
Beim Tragen der Kleider, beim Essen, Trinken, Kauen und Schmecken, auf der Toilette, beim Gehen, Stehen, Sitzen, Einschlafen, Wachen, Reden und Schweigen, klar wissen, was man tut..
Den Körper spüren, so ist Achtsamkeit gegenwärtig, soweit es der Erkenntnis dient, soweit es der Achtsamkeit dient. Unabhängig leben, an nichts anhaften.
So die Achtsamkeit auf den Körper üben.
Erwägung der Widrigkeiten des Körpers
Sich die Unreinheiten des Körpers, Schweiß, Speichel, Stuhl und Urin bewusst machen.
Sich die Anfälligkeiten des Körpers, seine Krankheiten, seine Gebrechlichkeit, Verletzlichkeit, seine Schwäche und Sterblichkeit bewusst machen.
Den Körper spüren, so ist Achtsamkeit gegenwärtig, soweit es der Erkenntnis dient, soweit es der Achtsamkeit dient. Unabhängig leben, an nichts anhaften.
So die Achtsamkeit auf den Körper üben.
Erwägung des Charakters
Sich die eigene Veranlagung, geerdet sein, emotional sein, temperamentvoll sein, intellektuell sein, bewusst machen.
Den Körper spüren, so ist Achtsamkeit gegenwärtig, soweit es der Erkenntnis dient, soweit es der Achtsamkeit dient. Unabhängig leben, an nichts anhaften.
So die Achtsamkeit auf den Körper üben.
Erwägung der Gräuel der Welt
Sich bewusst machen, dass der Körper nach dem Tode vermodert, dass er im Krieg durch Bomben, Giftgas und im Kampfesgetümmel zu Tode kommt, dass Kinder, Frauen und Männer missbraucht, betrogen und belogen werden, dass Krankheiten den Körper entstellen, dass sich Menschen selbst hassen und töten, dass Menschen geisteskrank, depressiv, manisch, schizophren, dement und degeneriert werden, dass Menschen verschleppt, gefoltert und versklavt werden, dass Menschen unsägliche psychische Pein erleben, dass Menschen, bettelarm, hungrig und süchtig sind, dass das Leben bis zur Unerträglichkeit schwer sein kann.12)
Den Körper spüren, so ist Achtsamkeit gegenwärtig, soweit es der Erkenntnis dient, soweit es der Achtsamkeit dient. Unabhängig leben, an nichts anhaften.
So die Achtsamkeit auf den Körper üben.
Fortsetzung des Maha-Satipatthana-Sutta, der Großen Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit, finden Sie in Ursache\Wirkung № 119.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 118: „Zufriedenheit"
Buddhistische Begriffe
Viele buddhistische Begriffe sind auch innerhalb der einzelnen Schulen und Richtungen nicht unumstritten. Um deren Auslegung gibt es praktisch seit dem Tod Buddhas Diskussionen. Die wesentlichen eigenen Interpretationen habe ich daher hier angemerkt: Freiheit: Im Original steht hier „Nibbana“ (pali) bzw. „Nirvana“ (Sanskrit). Der Begriff „Nirvana“ ist Kern- und Angelpunkt des buddhistischen Befreiungsweges. Nyanaponika, ein bedeutender, buddhistischer Gelehrte und Mönch, der 57 Jahre bis 1994 in Sri Lanka gewirkt hat, beschreibt Nibbana als die endgültige und restlose Befreiung von allem Leiden und Elend. Ich verwende daher den Begriff „Freiheit“. Siehe dazu auch das Buch „Ein Weg in die Freiheit“ aus dem U&W Verlag. Gedanken: Im Original „Geistobjekt“, „Dhamma“ (pali) bzw. „Ayatana“, Grundlagen aller geistigen Vorgänge. Dhamma ist einer der umfassendsten Begriffe im Buddhismus. Er betrifft die ganze buddhistische Lehre mit allen ihren Inhalten. Charakter: Im Original steht hier die Erwägung der Elemente: „Es gibt da in diesem Körper das Erd-Element, das Wasser-Element, das Hitze-Element und das Wind-Element.“ Darunter können, ähnlich wie in der Vier-Elemente-Lehre der griechischen Antike, die unterschiedlichen Temperamente des Menschen, also der Charakter, verstanden werden. Erwägung der Gräuel der Welt: In den Originaltexten werden in dieser Passage neun sogenannte Leichenfeldbetrachtungen beschrieben, in denen man sich bewusst macht, wie der Körper nach dem Tod in unterschiedlichen Stadien der Fäulnis und Verwesung zerfällt, „auf ein Leichenfeld geworfen, von Krähen zerfressen, von Adlern zerfressen, von Geiern zerfressen, von Hunden zerfressen, von Schakalen zerfressen, von den vielerlei Würmerarten zerfressen, ein Knochengerippe, fleischbehangen, blutig, eines fleischentblößt, blutbefleckt, eines ohne Fleisch, ohne Blut, eines, die Knochen verstreut, eines, die Knochen gebleicht, eines, die Knochen zu Staub geworden“. Da dem modernen Menschen diese Anblicke nicht mehr zugänglich sind, habe ich sie durch zeitgemäße Gräuel ersetzt. |
Die Quelle der Achtsamkeit
Die ältesten, noch bestehenden Quellen zur Achtsamkeit finden sich im sogenannten Pali-Kanon, in der Lehre von den Grundlagen der Achtsamkeit, dem Satipatthana-Sutta. Es findet sich dort zweimal, und zwar in der Mittleren Sammlung, Majjhima-Nikaya, als 10. Rede und in der Langen Sammlung, Digha-Nikaya, als 22. Rede. Auf diese zweite Stelle beziehe ich mich. Sie unterscheidet sich von der ersten nur geringfügig und ist etwas ausführlicher. Sie trägt den Titel „Maha-Satipatthana-Sutta – Die große Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit“. |
Der Originaltext dieser Lehrerede kann umsonst im Internet gefunden hier werden.
Die Seite hat Wolfgang Greger gestaltet, den deutschen Text hat der Verlag Beyerlein-Steinschulte zur Verfügung gestellt. Bei beiden bedanke ich mich für diese große, wichtige und bewundernswerte Kulturleistung sehr herzlich.
Bild Teaser & Header © Unsplash