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Sind ja ein Hund, diese Prägungen! Wenn man nicht aufpasst, glaubt man ein Leben lang, dass die Haare zu dünn, der Harnstrahl zu heftig oder das Lachen zu laut ist. Dass das aufs Gemüt schlagen kann, lässt sich einfach nachvollziehen. Glücklicherweise ist uns Menschen das Instrument der Selbstreflexion gegeben worden. Und auch wenn es sich nicht in jeder humanen Grundausstattung wiederfindet, könnte es doch über den Prägungsblues hinweg helfen. Wenn man möchte.

 

Kürzlich zwischen 1 und 2 Uhr nachts. Nein, ich bin nicht alleine gesessen und habe Löcher in meine Tischplatte gestarrt – ich hatte Gesellschaft. Und nochmals nein, kein Männerbesuch, sondern der einer lieben Freundin, mit der es sich vortrefflich philosophieren lässt. Über alles, aber auch über Männer. Und weil aller guten Dinge drei sind: nein, kein Männerbashing! Obwohl es natürlich um den einen oder anderen Vertreter dieses Geschlechts ging – wie gesagt, es war zwischen 1 und 2 Uhr früh. Da beginnt man, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Wir kamen auf den Trichter, dass Interpretationen das Leben extrem erschweren. Beliebte Beispiele sind dabei das Nachdenken über „Warum ruft er nicht an?“, wahlweise „Warum ruft er dauernd an?“ Wer multikulti unterwegs ist, überlegt sich gerne, innerhalb welchen Referenzrahmens die Zeitangabe „Eine Woche“ zu sehen ist. Als ich während meines letzten Urlaubs auf einem Boot das Mittagessen in fünf Minuten versprochen bekam, füllte sich mein Magen schlussendlich erst nach anderthalb Stunden. Ich esse langsam, aber nicht so langsam. Der Referenzrahmen war einfach ein orientalischer. Während wir auf diesem Kontinent nun doch einigermaßen ähnliche Vorstellungen von fünf Minuten oder einer Woche haben, nehmen das Menschen von jenseits des Mittelmeeres nicht ganz so pedantisch. Zeit – alles relativ! Und wenn man selbst jetzt nicht auf tunesische, ägyptische oder pakistanische Wurzeln zurück greifen kann, bleibt man mitunter doch verstört zurück. Und beginnt mit dem Interpretieren.

Eine Spielweise der Phantasie breitet sich da aus, die von einem Unfall bis zum Ghosten reicht. Und das Hirn derart zermartert, dass man die Kehrschaufel holen und die Brösel zusammenkehren möchte. Doch dann zwischen 1 und 2 entschließt man sich doch, darüber nachzudenken, ob man sich nicht auf seine Menschenkenntnis verlassen sollte. Und genau da beginnt die Polka mit der Prägung. Denn was ist, wenn man Zeit seines Lebens eingebläut bekommen hat, dass man eben keine Menschenkenntnis hat? Weil es immer wieder Begegnungen gab, die nicht von Dauer waren. Weil jemand anderer ja schon fünf Meter gegen den Wind gerochen hat, dass da etwas nicht stimmt. Weil doch ein Blinder mit Krückstock sieht, dass nicht geht, was nicht gehen darf.

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Ich kann mir vorstellen, dass solche Kriterien früher sehr gut funktioniert haben, weil Konventionen allgemeingültiger waren als heute. Wer in die Kirche ging, war ein guter Katholik. Wer einen Job hatte, war fleißig. Wer verheiratet war, blieb es meist auch. So was halt. Mit der zunehmenden Individualisierung zerfließen diese Konventionen, wie ich finde. Es wird alles möglich, und man wird dafür noch nicht einmal mehr ausgepeitscht. Leben und leben lassen – unnötig zu sagen, dass mir dieser Zugang sehr sympathisch ist. Doch was macht das mit unserer Menschenkenntnis? Während es früher einfacher war, Menschen in Schubladen zu legen und man dafür noch gar nicht einmal viele brauchte, möchte man heute beinahe anbauen, um für jeden, der einem begegnet, eine eigene anzulegen. Denn es ist eben nicht jeder ein guter Katholik, der in die Kirche geht. Und dass unsere Zeit das Boreout-Syndrom kennt, zeigt, dass man sich in seinem Job nicht unbedingt verausgaben muss. 40 Prozent aller Ehen in Österreich werden geschieden – auch das ist mitzudenken, wenn man sich lebenslange Treue verspricht.

Was bedeutet Menschenkenntnis also in einer Zeit, wo man sich oft gar nicht mehr die Zeit nimmt, einen Menschen kennenzulernen? Und kann man einen Menschen überhaupt jemals ganz kennenlernen? Ich glaube nicht. Zumindest zeigt das meine Erfahrung. Man verbringt Jahre seines Lebens mit jemandem, der sich plötzlich von heute auf morgen ändert. Der immer Porsche gefahren ist und ihn nun verschenkt. Der seinen Job kündigt und in ein buddhistisches Kloster eintritt. Der seine Frau für einen Mann verlässt. Das alles kann passieren in der heutigen Zeit. Und kein Meister der Menschenkenntnis kann das vorhersehen.

Auch wenn meine liebe Freundin zwischen 1 und 2 Uhr nachts bemüht ist, mich meiner Menschenkenntnis zu versichern, kann ich sie davon überzeugen, dass es in der Begegnung mit einem Gegenüber in der heutigen Zeit vielleicht eher auf die Herzensverbindung ankommt. Auf das, was man spürt, wenn man dem anderen in die Augen schaut. Auf das, was die Stimme des anderen in einem auslöst. Auf das, was das Bauchgefühl sagt. Denn das meldet ziemlich schnell, wenn etwas für einen selbst nicht stimmig ist. Und wovon man die Finger lassen sollte. Ob das auch für jemanden anders gilt? Natürlich nicht. Es gibt sie nicht mehr, die allgemeingültige Menschenkenntnis. Was an ihre Stelle treten sollte, ist die Intuition, die es in der heutigen Zeit schwer hat. Nicht nur, weil sie manchmal als Humbug verunglimpft wird, sondern auch, weil wir verlernt haben, ihr zu vertrauen. Doch dieses Vertrauen ist meiner Meinung nach in der heutigen Zeit wichtiger denn je. Weil sich die Intuition nicht mit glänzenden Oberflächen begnügt, sondern tiefere Qualitäten wahrnimmt. Und die sind es wert, offen gelegt und wertgeschätzt zu werden.

Claudia Dabringer

Claudia Dabringer

Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg mit allem, was zu einer Studentenzeit dazugehört. Mehrjährige Konzentration aufs Radiomachen, bis alles durchexerziert war und das Schreiben wieder im Kopf präsent wurde. Seitdem freie Journalistin und als Fachtrainerin & Schreibpädagogin...
Kommentare  
# thomas ernst 2018-01-25 21:38
Intuition ist wichtig!
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# magclaudiadabringer 2018-02-17 13:35
danke fuer ihre solidaritaet!
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