Manchmal muss man aus der Komfortzone raus – in jedem Alter und immer dann, wenn es sich verlockend anfühlt. Man muss innerlich gar keine Hurra-Tiraden anstimmen oder mit sich selbst einen langfristigen Vertrag abschließen. Aber locken sollte es schon.
Seit über drei Jahren gehe ich zum Bauchtanzen. Eine Freundin von mir reiht mich seitdem in eine Gruppe mit denjenigen, die in der Lebensmitte beschließen, einen Töpferkurs zu belegen. Ist nix falsches daran, aber meine Freundin verbindet Bauchtanz und Töpfern irgendwie mit existenziellen Krisen. Aus denen man ohne Ton und Tanz nicht rauskommen kann/will. Wie auch immer: Sie ist der Riverdance-Typ, ich der orientalische. Aber damit erzähle ich Ihnen als regelmäßiger/m Leser/in ja nicht wirklich etwas Neues.
Ich hatte es nach einer langen Reise begonnen, an deren letzter Station – auf der Insel Djerba – ich eine Aufführung erleben durfte. Und um meiner Freundin ein bisschen Recht zu geben: Meine damalige Krise war eine mittelschwere, vor allem was meine Identität anging. Nicht dass Sie jetzt meinen, ich hätte an so etwas wie eine Geschlechtsumwandlung gedacht, aber ich war mir völlig unklar darüber, was denn eine Frau in meinem Alter ausmacht. Diese Bauchtänzerin war zwar um Jahrzehnte jünger als ich, doch sie machte mir klar, dass sie sich mochte, ja liebte und schön fand. Auf einer vorherigen Station derselben Reise hatte ich gehört, dass traditionell Frauen eigentlich nur für ihren Mann tanzen. Und auch wenn ich damals noch nicht soweit war, dem etwas abgewinnen zu können, fiel mir das bei den fließenden Bewegungen dieser Tänzerin wieder ein.
Nun, Fakt war allerdings, dass ich keinen Mann hatte, für den ich tanzen konnte. Doch wie meine Tochter mir so schön vorgerechnet hat: „Wenn ich in drei Jahren ein Kind haben will, dann muss ich doch jetzt schon anfangen, mich um einen Mann umzuschauen. Sonst geht sich das zeitlich einfach nicht aus.“ Ich habe es immer geliebt, von meinen Kindern zu lernen. In diesem Sinne suchte ich mir nach meiner Rückkehr ein Studio, das orientalischen Tanz anbietet. Bauchtanz ist eher dem Volksmund entsprungen, begründet sich auf der französischen Bezeichnung von „danse du ventre“, weil der Bauch eben ein wesentlicher Teil dieses Tanzes ist. Egal. Ich bekam eine Schnupperstunde, und schnuppere jetzt eben seit über drei Jahren. Weil es schön ist, gut tut und Spaß macht.
Das Studio ist ein wunderbarer Ort, denn neben Tanzen kann man in den Pausen durch die diversesten Kostüme stöbern. Alle prachtvoll, alle sexy, alle verlockend. Doch ich habe es beim Stöbern belassen, denn was ich an richtigen Tänzerinnen sah, konnte ich bei weitem nicht leisten. Ich hatte mir in meiner Welt so ein Kostüm einfach noch nicht verdient. Der Bauch wackelte zu wenig, die Schritte saßen nicht perfekt, von den Armen will ich gar nicht erst anfangen. Mich in ein funkelndes Kostüm zu hüllen, war also ungefähr so wahrscheinlich wie dass ich die Max Planck-Medaille verliehen bekomme.
Und dann kam von meiner Lehrerin ganz unschuldig und wie nebenbei, ob ich bei einem Auftritt nicht mittanzen wolle. Ich könne es. Mein innerer Zensor antwortete umgehend mit einem „NEIN“, doch ich ließ mir mit der Antwort Zeit. Denn schon oft hatte ich die Erfahrung gemacht, dass einem andere oft mehr zutrauen als man sich selbst, und dass gerade darin wirkliche Chancen liegen. Zuerst argumentierte ich, dass es kein Kostüm in meiner Größe geben würde – hat nur sehr kurzfristig gewirkt, bis ein karibikblaues und ein bronzefarbenes vor mir hingen. Beide passten perfekt. Auch ein duftiger Schleier fand sich, denn was wir aufführen wollten, war ein Schleiertanz. Das Argument fiel wie derselbige am Ende der Choreographie. Ich hatte noch nie in einem Kostüm getanzt und wollte das zuhause probieren. Vielleicht würde ich so die Möglichkeit bekommen, aus irgendwelchem Grund abzusagen. Zu schwer, zu unbequem, zu nackt. Leider fühlte ich mich wohl in diesem Teil, das aus mir eine kleine orientalische Prinzessin in Bronze machte. Doch zugesagt habe ich trotzdem nicht. Ich ging zu den Proben, tanzte dort im Kostüm und plötzlich war der Tag der Aufführung da. Und ich stand auf der Bühne. Mitten auf der Straße. Vor lauter fremden Menschen.
Gerate ich in Krisensituationen, schalte ich in einen Automatenmodus. Das bedeutet, ich denke nicht mehr, sondern tue einfach, was zu tun ist. So ging es mir auch bei diesem Auftritt. Ich hatte nicht entschieden, und trotzdem tanzte ich. Weil ich vorgesehen war. Die Technik stürzte dreimal ab, und dreimal mussten wir drei von vorne anfangen. Das gab mir die Möglichkeit, mich an das alles zu gewöhnen. An das Angestarrtwerden zum Beispiel. An meinen nackten Bauch. An das Tanzen ohne Brille, die beim Verschleiern nur gestört hätte. Beim vierten Mal klappte es. Und da fühlte ich mich barfuß, mittelblind und halbnackt auf dieser Bühne schon richtig wohl. Zwei Freundinnen waren meine Wing Women, und sie erzählten mir später von glasigen Männeraugen während unseres Auftritts. Inzwischen weiß ich, warum Bauchtanz diese Wirkung hat. Laut Wikipedia gilt der orientalische Tanz als Ursprung des Striptease. Nun, bei uns sind – wie gesagt – nur die Schleier gefallen.
Bei mir persönlich noch mehr. Also nicht auf der Straße, aber danach. Der Stein der Erleichterung zum Beispiel, dass ich mich beim Ausflug aus meiner Komfortzone hinaus nicht blamiert habe – im Gegenteil. Dass ich mir schlussendlich die Choreographie doch noch merken konnte. Dass ich wohlmeinenden Menschen wie meiner Lehrerin durchaus glauben darf, wenn sie mir etwas zutraut. Am Samstag tanze ich wieder bei einem Fest, und es wird mir ein Fest sein. Denn zum Feiern ist man schließlich immer jung und Frau genug.