Manchmal wünscht man sich eine Münze, die nicht nur „ja“ oder „nein“ signalisiert, sondern gleich ein ganzes Lösungsbündel liefert. Bis es so etwas auf dem Markt gibt, muss ich darauf warten, was mein Gehirn an Möglichkeiten ausspuckt.
In Deutschland gibt es sieben Milliarden Kleidungsstücke, hierzulande immerhin knapp 550 Millionen allein in der Altersgruppe zwischen vierzehn und 69 Jahren. Durchschnittlich besitzt jede und jeder 85 Kleidungsstücke, Slips und Socken nicht mitgerechnet. Das will erst einmal organisiert sein. Ich habe ja noch nie verstanden, warum Frauen so viel Zeit vor ihrem Kleiderschrank verbringen. Denn vor vielen Jahren habe ich bei mir ein System eingeführt, das mir die Auswahl binnen weniger Minuten erlaubt. Voraussetzung war allerdings, dass sich in meinem Schrank nur Klamotten befinden, die mir passen und gefallen. Alles, was diese Kriterien nicht erfüllt, wurde aussortiert – tat in Teilen weh, die Wunde ist allerdings schnell verheilt.
Mein Kasten besteht aus Liegeflächen und Hängeraum. Liegend gelagert werden Pullis, Shirts, Strickwesten und Jeans. Aufgehängt sind Blusen, Röcke und Kleider sowie Hosen und Jacken aus Stoff. Immer, wenn ich etwas Neues kaufe, wird es entweder ganz unten im Stapel deponiert oder an die letzte Stelle der Stange gehängt. Und angezogen wird nur, was ganz oben liegt oder ganz vorne hängt. Das hat den Vorteil, dass es immer wieder neue Kombinationen gibt, die wetterunabhängig gehandhabt werden können, und Garderobenleichen gar nicht erst entstehen. Und wenn ich mir etwas Neues kaufe, muss etwas anderes weg.
So einfach wünschte ich mir alle Entscheidungen. Und manchmal sind sie es ja auch, nämlich dann, wenn die Alternative ganz und gar undenkbar ist und der Bauch fröhlich vor sich hin brummt bei der Vorstellung, wie sich die richtige Entscheidung anfühlt. Das sind Glücksmomente, die viel zu selten wertgeschätzt werden. Denn es gibt Menschen, für die sind schon die kleinsten Anlässe Grund für eine erschwerte Entscheidungsfindung. Kann man mit dem Auto fahren, wenn drei Schneeflocken auf der Fahrbahn liegen? Esse ich ein Schnitzel oder panierte Champignons? Oder in Zeiten wie diesen: Umarme ich eine Freundin oder nicht?
Heute wurde ich gerügt, weil ich genau das getan habe: eine Freundin umarmt. Nein, nicht im öffentlichen Raum, sondern innerhalb von Büroräumlichkeiten. Dass sie und ich den Großteil unserer Zeit mit Arbeit in einer nahezu menschenleeren Umgebung verbringen und anschließend völlig erschöpft in die Kissen sinken, dürfte die Gefahr, uns mit den C-Scheißerchen anzustecken, gegen null driften lassen. Doch Hauptsache, gerügt. Egal.
Letzte Woche schien für mich die Situation noch relativ klar zu sein. Ich vertraue meinen wichtigen Bezugspersonen, dass sie auf sich achten und gesund bleiben. Und heute hat mich der Hochmut angesichts der mit Hoffnung aufgeladenen allerletzten Wochen des Jahres doch noch in die Knie gezwungen. Denn für morgen habe ich eine Freundin zum Mittagessen eingeladen. Blöderweise ist sie mit einer später positiv Getesteten spazieren gegangen. Vermutlich nicht in einem Abstand von zwei Metern. Und weil ich zugeben muss, dass ich über die Übertragungswege nicht vollumfassend im Bilde bin, stecke ich jetzt in der Zwickmühle.
Stünden nicht zwei wichtige Ereignisse an, die ich ermöglichen möchte, würde ich mich voller Vertrauen treffen. Doch diese Ereignisse bringen mich selbst in einen größeren Zusammenhang, selbst wenn ich für mich oft das Gefühl habe, auf einer Insel zu leben. Sie bringen mich in die Situation, für andere mitdenken zu müssen, für ihr Wohl eine Entscheidung zu treffen. Doch kann ich überhaupt ihr Wohl beeinflussen? Aktuell bezweifle ich, ob ich das meine zur Gänze unter Kontrolle habe. Nein, ich bin nicht krank, alles gut. Doch kann ich wirklich hundertprozentig sicher sein, dass „es“ mich nicht irgendwie anfliegt? Weil „es“ sich ja bei diesen Temperaturen selbst in der frischen Luft treiben lässt. Und sich dann vielleicht auf meiner Wuscheljacke, Glitzertasche oder Sonnenbrille niederlässt.
Das alles macht mich total kirre. Deshalb muss ich eine generelle Entscheidung treffen. Die Frage, ob man sich für oder gegen etwas entscheidet, stellt sich hier nicht, denn das „für“ hat das „gegen“ zur Konsequenz. Ist leider so. Bei aller Liebe zur Wortklauberei. Was allerdings schon hilft, ist ein positiver Grund, warum man sich gegen etwas entscheidet. Und wenn ich mir meine Gedanken von letzter Woche in Erinnerung rufe, kann das nur einer sein, der meine Selbstwirksamkeit festigt. Läuft also so: Ich möchte etwas tun, wahlweise erleben. Um das zu ermöglichen, muss ich Vorkehrungen treffen. Wenn ich beispielsweise eine Reise antrete, muss ich vorher die Gültigkeit meines Reisepasses überprüfen. So in der Art.
Meine Aufgabe ist es also für die kommenden Wochen, gesund zu bleiben. Und das nicht unvernünftigerweise aufs Spiel zu setzen. Deshalb werde ich jetzt wohl das Treffen mit meiner Freundin auf einen Tag verschieben, der außerhalb der Inkubationszeit liegt, und dann die Situation neu beurteilen. Auch wenn ich nicht will. Doch wenn ich etwas will, muss ich auch das andere wollen. Das dürfte wohl die moderne Variante von „Wer A sagt, muss auch B sagen“ sein oder werden. Selbstwirksamkeit erfordert offenbar Opfer. Und Prioritätensetzung. Lustig geht anders.
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