Kennen Sie noch jemanden, der sich über die aktuelle Lage nicht beschwert? Die Medien sind auch voller Klagen, und vom Internet will ich gar nicht erst anfangen.
Also ich komme gar nicht dazu, mich über die Situation zu beschweren, weil ich ja damit beschäftigt bin, mein Leben am Laufen zu halten. Dazu gehören natürlich die Menschen, die mir am Herzen liegen, auch ihre Klagen. Es gibt welche über die Masken, über das mangelnde Kulturangebot oder – mein persönliches Highlight – das Leben insgesamt. Weil das kein Leben sei, höre ich von dem Mann, der letztes Jahr beschlossen hat, mit mir leben zu wollen. Mein „Nein“ hat sich wohl in den Gesprächen mit dem Ausland irgendwann und irgendwo versendet. Deshalb sammle ich jetzt Karmapunkte und versuche, ihm „Leben“ zu erklären. Schon einmal versucht? Ist nämlich gar nicht so einfach, wenn man mittendrin steckt.
Wenn man jetzt eine etwas traditionelle Sicht auf das Leben hat, kann es momentan haken. Traditionell nämlich insofern, dass man gerne zurückhätte, was man immer schon als gegeben angenommen hat. Wenn man einfach nicht davon lassen mag, was man bisher als wichtig erachtet hat. Und zugegebenermaßen kann es bitter sein, plötzlich mit leeren Händen da zu stehen, weil einem alles entglitten ist, was einem den Alltag gefüllt hat. Da entstehen Lücken, für die man nichts kann und die man auch gerne wieder zudecken würde – eben am liebsten mit den Dingen, die bereits in den letzten 500 Jahren dort aufbewahrt wurden. „S‘not life, babe“, höre ich und nehme das zum Anlass, ihm zu erzählen, wie ich meine Tage fülle. Die gute, alte Vorbildwirkung hat schon vieles richten können. Nicht bei ihm. „S‘not life, babe“, sagt er auch zu meinem Leben, und das macht mich dann doch etwas grummelig, denn mein Leben lasse ich mir von gar niemandem vermiesen.
Am nächsten Tag meditiere ich und ändere dann meine Strategie. Ich halte ein Buch über die integrale Lebenspraxis in die Kamera und beginne, ihm zu erklären, was gemäß diesem Ansatz zum Leben gehört. Punkt 1: der Körper. Wenn man sich beklagt, dass die Muskeln zurückgehen, weil die Fitnessstudios geschlossen haben, kann man was tun. Millionen Menschen bewegen sich auf die unterschiedlichste Art und Weise halbwegs parallel zu YouTube-Videos. Habe ich auch in Anspruch genommen, hat nicht wehgetan. Und wenn ich eine Abwechslung zu meinem täglichen Work-out suche, tue ich es immer noch. Klage abgelehnt.
Punkt 2: der Verstand. Wenn der Kopf mit Sorgen, Befürchtungen und sonstigen Egogedanken voll ist, kann man sich logischerweise mit nichts anderem beschäftigen, auch nicht auf wissenswerte Sachverhalte konzentrieren. Und anders als bei Flügen, Ausbildungen oder Konzerten hat auch eine Warteliste für sinnvolle Gedanken keinen Zweck, weil man ja selbst dafür keinen Platz im Hirn hat. Dabei könnte man gerade jetzt unendlich viel Wissen generieren. Eine Bekannte hat beispielsweise mit dem Studium der jüdischen Kulturgeschichte begonnen. Ich treibe mich in Workshops übers Schreiben und die Biografiearbeit herum, von sonstigen Angeboten wie Podcasts und Büchern ganz zu schweigen. Manchmal wird es mir sogar zu viel, weil mich meine Begeisterung luftig-locker über die Barrieren meiner geistigen Aufnahmefähigkeit hüpfen lässt und ich mich dann mit Nackenverspannungen wiederfinde, die dem schweren Kopf geschuldet sind. Trotzdem: Klage abgelehnt.
Punkt 3: der Geist. Wann, wenn nicht jetzt hat man Zeit für Meditation? Und wenn die Tage dann wieder schneeloser werden, kann man das praktisch überall machen. Genauso wie ein Gebet überall stattfinden kann, für das man nicht unbedingt ein Gebäude drum herum braucht. Gut, bei Starkregen empfiehlt sich das, aber sonst hört der Schöpfer überall zu. Natürlich mag die spirituelle Gemeinschaft eine Verortung brauchen – doch gerade das letzte Jahr hat gezeigt, dass beispielsweise junge Katholiken Internetangebote dazu sehr gut und sehr gerne angenommen haben. Auch wenn noch Luft nach oben ist. Aber das ist ein anderes Thema. Sich nicht mit dem Universum verbinden zu können, weil dazwischen ein Virus kursiert? Klage abgelehnt.
Punkt 4: der Schatten. Der Volksmund spricht ja von Wahnsinn light, wenn man „einen Schatten hat“. Und das mag vor allem dann zutreffen, wenn man sich mit diesem Schatten eben nicht befasst. Sprich keine Reflexionsarbeit leistet, etwa in Form von Tagebuchschreiben oder einer Therapie. Auch das Erfassen von nächtlichen Träumen kann Schattenarbeit sein. Doch wenn man sich der Entscheidung entzieht, in welcher Sprache man schreiben möchte oder die Träume nicht zur Kenntnis nehmen will, kann ich nur eines sagen: Klage abgelehnt.
Ich persönlich bin mit diesen vier Punkten täglich zwischen vier und fünf Stunden beschäftigt. Dazu kommen noch die nachgereihten Themen aus der integralen Lebenspraxis wie Arbeit, Ethik, Beziehungen, Kreativität und Seele. Das nenne ich Leben. Weil es nämlich genau das ist, was sich vor meinen Füßen abspielt und was ich selbstwirksam gestalten kann. Auch in Pandemie-Zeiten. Und wenn mir wieder jemand damit kommt, dass das kein Leben ist, werde ich sanft lächeln und das Gespräch beenden mit dem Hinweis, dass ich mich lieber mit meinem Nicht-Leben beschäftige als mit nichtgelebten Leben.
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