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Unsere Zeit erinnert daran, dass wir Gewohntes auf den Prüfstand stellen müssen, es vielleicht sogar nicht mehr zurückbekommen. Ich sehe das als Chance.

„Sie haben wunderschöne Gefäße“, hörte ich unlängst. Und nein, es hat sich nicht auf meine Vasensammlung oder sonstiges Aufbewahrungsmaterial bezogen, sondern auf das, was das Blut durch meinen Körper transportiert. Vorher hatte ich mir – wie gewohnt – einen Vortrag darüber anzuhören, was Rauchen mit ebenjenen Gefäßen macht und dass viele erst aufhören, wenn nichts mehr zu machen sei – mit den Gefäßen. Bei der ersten Untersuchung meiner Arme und Beine hieß es noch: „Sie haben Glück!“, bei jener der Bauchschlagader „Sie haben auch hier Glück!“, und auch die in den Kniekehlen, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass sie relevant wären, hörte ich das Gleiche. Die Halsschlagader verhält sich altersgemäß, wieder nicht rauchergemäß, und am Ende der Untersuchung kam dann das Kompliment des Tages. Nichtsdestotrotz: Es braucht mehr als einen fürsorglichen Gefäßchirurgen und seine noch fürsorglicheren Mahnungen, um mich aus dem blauen Dunst herauszuzerren. Doch eine Gewohnheit muss ich trotzdem zurücklassen: die Blutverdünner, die mir seit über dreißig Jahren den Weg ins Bett gepflastert haben. Gestern ausprobiert, ging.

Meine Hardware ist also in einem guten Zustand. Das beruhigt mich sehr, zumal Gesundheit in meiner Familie gerade ein Riesenthema ist. Und wenn sie sich ändert, folgen diesem Prozess meist auch neue Gewohnheiten. Da machen Menschen plötzlich im Bett Gymnastikübungen, die vorher von körperlichen Betätigungen dieser Art nichts gehalten haben. Da müssen lösungsorientierte Menschen gelassener werden, wenn sie begreifen, dass alles Mögliche bereits getan wurde und jetzt nur mehr Gefasstheit hilft. Da schauen Menschen auf einen leeren Platz am Esstisch, der zwar in Zukunft besetzt, aber nie mehr ausgefüllt wird. Wenn das Äußere die Grenzen zum Inneren überschreitet, ändert sich vieles. Vor allem in einer Familie.

Gewohnheiten

Ich habe das Gefühl, dass sich auch die Gewohnheit, sich zu verstehen, verabschiedet. Mir wird berichtet, dass auf die Frage nach einer Adresse nur die Straße genannt wird und man die Stadt dazu selber googeln muss. Dass die Frage nach einer Telefonnummer nur mit der Anschlussnummer beantwortet wird und man auch hier recherchieren muss, zu welchem Ort, ja Land sie gehört. Und auch wenn ich meinem Vater erkläre, wie er bei einem Onlinehändler etwas bestellt, muss ich zuerst fragen, was er sieht. Da fliegen dann Bildschirmfotos hin und her, und am Ende bestelle ich es für ihn – nach anderthalb Stunden. Manches geht eben nicht mehr. Doch was eben nicht mehr geht, ist eine nahezu tägliche Überraschung und macht Gewohnheiten volatil.

Eine Gewohnheit, die ich über fünfzehn Jahre gepflegt habe, ist ausgesetzt worden. Weil der Raum, in der diese Gewohnheit blühen konnte, weggefallen ist. Und damit meine ich nicht ein Zimmer meines Hauses, sondern jenen Raum zwischen zwei Menschen. Denn vor allem dort ist es sinnvoll, immer wieder zu überprüfen, ob Loyalität wirklich eine Angelegenheit ist, aus der es kein Entkommen gibt. Lange habe ich diese Überlegung in mir unterdrückt, weil ich ganz automatisch loyal war, wenn ich mich mit jemandem verbunden gefühlt habe. Das hat auch funktioniert, wenn ich vom anderen übel behandelt wurde. Doch dann kam dieser eine Tag, diese eine Nachricht, dieses eine Wort, bei dem es „klick“ gemacht hat. Und ich endlich begriffen habe, dass es für mich immer nur schiefgehen kann, wenn ich an Menschen festhalte, die loswollen – meist in eine andere Richtung. Die Loyalität vermutlich schreiben, aber keinesfalls mit Leben erfüllen können. Seitdem tue ich mir auch mit der Abschaffung von zwischenmenschlichen Gewohnheiten leichter. Wenn jemand nicht schreibt, schreibe ich auch nicht. Wenn jemand nicht redet, rede ich auch nicht. Wenn jemand sich falsch verhält, ziehe ich die Konsequenzen. Auch wenn lieb gewonnene Gewohnheiten dabei auf der Strecke bleiben. Oder zumindest ausgesetzt werden. Denn eine Chance hat noch jede und jeder von mir bekommen – manchmal auch eine dritte. Die Loyalität ist ein Hund, aber keiner, den man nicht zähmen könnte.

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Bilder  ©  Pixabay 

Claudia Dabringer

Claudia Dabringer

Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg mit allem, was zu einer Studentenzeit dazugehört. Mehrjährige Konzentration aufs Radiomachen, bis alles durchexerziert war und das Schreiben wieder im Kopf präsent wurde. Seitdem freie Journalistin und als Fachtrainerin & Schreibpädagogin...
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