Wer glaubt, dass ein Kindergeburtstag nur ein überschaubares Spektrum an Gesprächsthemen bietet, irrt. Kürzlich fand ich mich in einer Unterhaltung über kulturelle Aneignung wieder – und nein, das Motto der Feier war nicht „Cowboy und Indianer“.
Auslöser für das Gespräch zwischen Geburtstagstorte und Sektstößchen war die Absage eines Konzerts in der Schweiz. Ein österreichischer Musiker mit Dreadlocks hatte offenbar im Publikum so viel Unbehagen ausgelöst, dass die Barbetreiber ihn nicht auftreten lassen, dafür mit einer Entschädigungszahlung ruhig halten wollten. Ereignisse wie diese tragen im Subtext das Thema der „kulturellen Aneignung“, und das ist heutzutage sehr beliebt als Grund für einen Shitstorm, offenbar nicht nur virtuell.
Das erste Mal, wo mir diese Begrifflichkeit begegnet ist, war, als die Inaugurationsrede für den amerikanischen Präsidenten Joe Biden von der afroamerikanischen Autorin Amanda Gorman gehalten wurde und diese Rede dann übersetzt werden sollte. Es durfte nämlich keinen weißen Menschen geben, sondern musste eine Person of Colour sein. Ich habe das damals genauso wenig verstanden wie die Ausladung des Dreadlock-Musikers jetzt in einer Schweizer Bar. Und doch finde ich es spannend, wo die Grenze verläuft. Denn für mich persönlich ist das wichtig.
Man nimmt sich ohne zu fragen etwas, das einem nicht gehört, und schöpft daraus eigenen Nutzen. Das nennt man kulturelle Aneignung. Darunter fallen geistiges Eigentum, traditionelles Wissen oder kulturelle Artefakte, hauptsächlich von Minderheiten. Pfui ist das deshalb, weil man sich etwas aneignet, ohne die Konsequenzen tragen zu müssen, die Minderheiten oft in negativer Art und Weise auszuhalten haben. Beispielsweise in Form von Diskriminierung.
Mein Haus wird von den meisten Besucherinnen und Besuchern als sehr gemütlich empfunden. Das hängt auch damit zusammen, dass ich von meinen vielen Reisen immer etwas mitgebracht habe: Einrichtungsgegenstände, Schmuck, Kleidung. Unter dem Blickwinkel der kulturellen Aneignung ist das wohl auch ziemlich „pfui“, vor allem meine Kleidung. Und ich frage mich jetzt: Darf ich meine Haremshosen weiterhin auf der Straße tragen, weil dieses Kleidungsstück ja nicht meinem Kulturkreis entstammt? Darf meine Freundin keine Hennamalereien auf ihren Händen tragen, weil es bei uns nur ein rares Modeaccessoire ist, obwohl sie mit einem Afghanen verheiratet ist? Muss ich mein Armband mit den türkischen Augen ablegen, weil es als Amulett hierzulande unüblich ist? Muss ich meine Mala aus dem Auto entfernen, weil es ein französisches ist und in Österreich fährt? Wo fängt es an und wo hört es auf, das Tanzen auf Eierschalen? Vom Bauchtanzen bei einem Straßenfest will ich da gar nicht sprechen, geschweige denn nachdenken.
Ich gebe zu, dass ich mir selten Gedanken gemacht habe darüber, warum eine Kultur etwas hervorgebracht hat und welche Diskriminierungen diese Kultur eventuell über sich ergehen lassen musste. In meiner Oberflächlichkeit habe ich neue Eindrücke aufgesogen und dann versucht, sie in mein Leben zu integrieren, weil ich das immer so mache und gemacht habe, wenn mir etwas nahekam. Reisen ist für mich immer noch eine der besten Möglichkeiten, sich zu bilden. Die Welt als ein großes Ganzes zu erleben und daraus Verbundenheit entstehen zu lassen. In andere Kulturen einzutauchen und sich damit zu beschäftigen, erweitert den Horizont und ist – ganz nebenbei – die beste Vorbereitung auf die ganz alltäglichen Herausforderungen der Globalisierung. Stichwort Flüchtlinge. Stichwort Corona. Stichwort Klimawandel.
Im Zuge meiner Recherchen zur kulturellen Aneignung bin ich auf die verwandte kulturelle Anerkennung gestoßen. Letzteres unterscheidet sich von Ersterer dadurch, dass man sich umfassend mit einer Kultur beschäftigt, an der man Interesse hat und dieser mit Respekt begegnet. Dann eignet man sich nicht etwas an, sondern trägt die Zeichen einer anderen Kultur aus Anerkennung. Wer also meine Haremshosen anzweifelt, darf gerne einmal mit mir über die 99 Namen der Liebe diskutieren oder sich meine Erfahrungen mit öffentlichen Bauchtanzauftritten erzählen lassen. Ich habe orientalische, asiatische und afrikanische Elemente in mein Leben integriert, weil ich fasziniert bin von dem anderen Weg, den man in seinem alltäglichen Leben wählen kann. Weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass die westliche Kultur nicht das Gelbe vom Ei ist, auch wenn sie viele Vorteile bietet. Weil ich dadurch gelernt habe, gelassener mit meinem eigenen Dasein zurechtzukommen. Schon alleine dafür zolle ich allen Menschen, denen ich auf dieser Reise begegnen und von ihnen lernen durfte, höchsten Respekt. Insofern glaube ich, dass ich mein türkisches Augenarmband behalten darf. Und so jeden Tag daran erinnert werde, dass wir bei aller Verschiedenheit nur durch die Anerkennung der gegenseitigen Ansichten zu einem friedlichen Ganzen zusammenwachsen können.
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