Warum muss oder soll man im Leben nach etwas streben, wie Schulabschluss, Ausbildung, Studium, wenn wir doch alle sterben?
MoonHee beantwortet hier Fragen des alltäglichen Lebens oder Fragen, die ihr schon immer einmal stellen wolltet. In ihrem ersten Beitrag „Wie geht es dir heute? Danke, gut!“ findet ihr mehr Informationen dazu.
Antwort MoonHee:
Alles, was wird, vergeht, ob belebt oder unbelebt. Die Vergänglichkeit allen Seins macht den Menschen leidend und erfüllt ihn mit Angst und Schrecken. Viele Menschen versuchen, diesem Schmerz und Leid durch Aktivismus zu entrinnen. Andere wiederum stellen sich tot und leben mit einer angezogenen Handbremse. Beides führt zu einem Leben, das auf die eine oder andere Weise anstrengend und unbefriedigend ist.
Alles Belebte strebt nach etwas. Leben kann nicht nicht nach etwas streben. In erster Linie strebt Leben zu Leben. Weiterhin will es sich fortpflanzen und seine physischen Bedürfnisse stillen. Höhere Lebewesen suchen nach Gemeinschaft und Wohlempfinden. Beim Menschen als Geistwesen kommt noch das Streben nach Sinn und Glück hinzu. Das liegt daran, dass das Universum lebendig ist und nicht tot. Leben ist work in progress. Es ist Entfaltung und Wandel. Ohne Wandel und Streben gäbe es nichts. Das Streben ist die natürliche Energie allen Seins – eine Energie, die nach vorne gerichtet ist. Freigesetzte Energien können nicht wieder zurückgenommen werden. Ausgelaufenes Wasser bekommt man nicht mehr in die Flasche zurück; eine Vase, die zerbrochen ist, wird trotz Kleben eine andere sein; ein Wort, das gesagt wurde, ist gesagt etc. Das Leben ist eine Anreihung von Veränderungen. Nichts ist von Dauer. Wir können an dieser Unbeständigkeit verzweifeln und mit dem Leben hadern oder wir erkennen ihre Notwendigkeit, mit all den großartigen Möglichkeiten, die das Leben lebenswerter machen.
Abgesehen davon, dass Leben ohne Wandel nicht möglich ist, ist die Endlichkeit keine Strafe oder ein Fluch. Gerade das Wissen und die Sorge um unser zeitlich begrenztes Dasein beflügelt uns – über Grenzen hinauszugehen. Wir Menschen schaffen Kulturen und Kunst, machen Erfindungen, betreiben Forschung und Wissenschaften. Weil wir Vorstellungskraft und Reflexionsvermögen besitzen, uns in Beziehung zu unserer Umwelt setzen und kreativ tätig sind, fragen wir nicht nur nach dem Sichtbaren, auch das Unsichtbare interessiert uns. Was ist der Sinn des Lebens? Warum bin ich hier? Wonach soll ich streben? Diese Fragen stellen wir uns, weil wir endliche Wesen sind. Denn wir wollen nicht einfach unsere Zeit zwischen Leben und Tod absitzen oder uns von unseren Trieben, Instinkten und Ängsten leiten lassen; wir wollen unsere begrenzte Zeit sinnvoll nutzen und ein gutes Leben haben. Ein gutes Leben ist für uns eins, in dem wir uns entfalten können. Wir alle möchten ein Leben führen, das zu uns passt. Dafür müssen wir jedoch erst einmal wissen, wer oder was wir sind. Das heißt, wir müssen uns (aus-)bilden. Indem wir lernen und Erfahrungen machen, erschließt sich mir: Ich bin, weil anderes ist. Gewissen Strukturen zu folgen, auch mal Dinge zu tun, die einem nicht unbedingt liegen, sich Anstrengungen auszusetzen und nicht gleich aufzugeben, lassen uns über uns selbst hinauswachsen und lässt die Welt in einem größeren Licht erscheinen. Die Welt eines Wissenden ist größer als die Welt eines Unwissenden. Bildung und Wissen sind für ein selbstbestimmtes Leben existenziell. Je mehr ich von der Welt und ihrem Wirken weiß, desto freier kann ich mich in ihr bewegen. Deshalb sind Chancengleichheit und das Recht auf Bildung für eine freie und friedvolle Welt unerlässlich. Nur ein selbstbestimmtes Leben sieht im Teilen eine Bereicherung und keinen Verlust.
Nie können wir Freiheit und Glück erreichen, wenn wir nicht lernen, zu lernen und Versagen und Scheitern auszuhalten. Ob uns das gefällt oder nicht, das ganze Leben ist eine Ausbildungsstätte, eine Vorbereitung auf den Tod. Alles Lernen, alle Mühen und alle Disziplin dienen zur inneren Stärkung. Wir alle sterben. Die Frage ist nur, wie? Wer werden wir sein, wenn es so weit ist? Werden wir mit Reue und Bedauern sterben oder erfüllt und in Frieden? Die Antwort wird sich nach dem richten, wonach wir im Leben gestrebt haben. Das, wonach wir im Leben streben, macht uns zu dem Menschen, der wir sind. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard sagte: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ Wir können nicht nicht handeln. Selbst sich des Lebens zu enthalten, ist eine Handlung. Wir können alles infrage stellen und passiv vor uns hindümpeln oder wir können die Freiheit nutzen, zu lernen, vor allem die bedingungslose Hingabe an das Leben, sodass der Tod unserem Leben nichts anhaben kann.
Der persische Mystiker Rumi über das Streben und das Sehnen und den damit oft einhergehenden Schmerz:
„Es ist Schmerz, der den Menschen bei jeder Unternehmung leitet.
Solange kein Schmerz für irgendetwas in ihm ist und keine Leidenschaft
und kein Sehnen nach der Sache in ihm aufkommt,
wird er niemals streben, diese Sache zu erreichen.
Ohne Schmerz bleibt diese Angelegenheit für ihn unerreichbar,
sei es Erfolg in dieser Welt oder Rettung in der nächsten.
Solange die Wehen nicht einsetzten,
begab sich Maria nicht zum Stamme des Palmbaumes.
Dieser Schmerz brachte sie zum Baum und der verdorrte Baum trug Früchte.
Der Leib ist wie Maria. Jeder von uns hat einen Jesus in sich.
Wenn bei uns Schmerz einsetzt, wird unser Jesus geboren.
Wenn keine Wehen kommen,
dann geht Jesus zu seinem Ursprung zurück auf demselben geheimen Pfad,
auf dem er gekommen war,
und lässt uns leer und ohne Anteil an ihm zurück.“
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